BERLINER ÖKONOMIE : Begegnung unter der Weltzeituhr
Man sucht fast instinktiv nach Halt bei diesen ganzen Territoriums- und Bindungsverlusten, sagt Adelheid, und will wenigstens seine geistigen Wurzeln stärken
Neben der politischen Klasse, den klasse Managern und der S-Klasse gibt es, im Maße die Arbeiterklasse verschwindet, eine neue „gefährliche Klasse“, die mit dem mählichen Zerfall einer lange Zeit angestrebten „Gesellschaft der Ähnlichen“ (R. Castel) aus der Summe aller „Ausgegrenzten“ besteht. Zygmunt Baumann nennt sie die „Überflüssigen“, Edward Said sprach von den Migranten als den neuen „Aperoi“. Und dazu zählen auch die „34.000 Schizophrenen, die täglich in Berlin unterwegs sind“, wie die BZ kürzlich aus dem Gerichtssaal vermeldete: um dann konkret über den „Papageien-Mann“ zu berichten, der im verregneten Sommer 2005 ein Kettensägenattentat auf eine Frau verübte und sich dann mit einer Axt selbst verstümmelte.
Am Alexanderplatz traf ich kürzlich auf zwei andere: Adelheid und Dieter. Er war, nachdem er in der Wende einen CDU-Politiker angeschossen hatte, erst 14 Jahre in einer Anstalt sicherheitsverwahrt worden und lebte nun in einer betreuten WG. Sie hatte, nachdem sie mit einem Messer auf einen SPD-Politiker eingestochen hatte, „lebenslängliche Sicherheitsverwahrung“ bekommen. Nun war sie aber hier – auf dem Alex … Wieso? Egal! Erheben wir nicht alle Anspruch auf eine lebenslängliche Sicherheitsverwahrung – angesichts der Kostenexplosion bei den Sicherheitsleistungen?
Deswegen fragte ich auch nicht danach, sondern konfrontierte die beiden sogleich mit meiner These, dass sie ihre paranoid-schizophrenen Attentate im April und Oktober 1990 mitten in der „Wende“ – vom kurzen euphorischen Selbstbestimmungskampf der Ostdeutschen bis zu ihrem deprimierenden Anschluss an Westdeutschland – verübt hatten: „War das Absicht – oder haben Sie die Wahrheit halluziniert und deswegen auf den dabei federführenden Minister geschossen?“, fragte ich rundheraus. „Weder noch“, antwortete Dieter, „es war zunächst nur ein unterschwelliges Beben, so als würde man plötzlich merken, dass einem nun der Boden unter den Füßen weggezogen wird.“ Adelheid ergänzte: „Ich sah in meinem Politiker bloß den Demagogen und Poujadisten.“ „Aber es stimmt schon“, fügte Dieter hinzu, „wir sind eine ‚Verschwörung der Gleichen‘, uns bleibt ja auch gar nichts anderes übrig, und als solche meinten wir uns gegen diese Herrschsüchtigen wehren zu müssen, die uns mit getexteten Reden folterten.“
„Jetzt nicht mehr?“, fragte ich zurück. „No comment“, erwiderte mir dazu Adelheid, um dann noch einmal auf die zunehmende Unsicherheit zurückzukommen: „Wir hätten sie auch schon Mitte der Achtzigerjahre spüren können, aber tatsächlich merkten wir erst ums Jahr 2000, dass und wie immer mehr scheinbar stabile Beziehungen und Arbeitsverhältnisse transitorisch wurden – um uns herum, denn wir arbeiten ja eigentlich gar nicht, und unser Liebesleben … na ja.“
„Lesen Sie denn …?“, fragte ich die beiden daraufhin etwas töricht. Während Adelheid noch überlegte, antwortete Dieter: „Manchmal gehe ich in die Bibliothek. Aber abonniert bin ich quasi auf Die Kommenden, die Sie wahrscheinlich nicht kennen werden …“ „Und ich lese fast regelmäßig die Novalis“, ergänzte Adelheid, „ebenfalls eine sehr kleine, unbekannte Zeitschrift, von Anthroposophen.“ Dieter fügte hinzu: „Anfänglich haben wir uns gestritten, ich behauptete, die Novalis sei aus den Kommenden entstanden, und sie behauptete, genau genommen sei es eher umgekehrt gewesen. Aber das ist nicht so wichtig …“
„Doch, mir schon“, antwortete Adelheid, denn es ist doch so, dass man fast instinktiv nach Halt sucht bei diesen ganzen Territoriums- und Bindungsverlusten und wenigstens seine geistigen Wurzeln stärken will. Außerdem bin ich sowieso wieder etwas streitsüchtiger geworden, seitdem meine Medikamentendosis reduziert wurde, und das bedaure ich auch nicht, im Gegenteil.“ „Dafür tu’ ich ihr nun manchmal leid“, sagte Dieter, „sie hält mich für aggressionsgehemmt … Auf Wiedersehen dann“, sagte er noch und enteilte mit Adelheid zur ankommenden Straßenbahn. HELMUT HÖGE