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BEI REEM KÖNNTEN DIE LEUTE IN DEN HÄUSERN sterben, und die Nachbarn bekämen nichts davon mit. Aber wehe, irgendwer glaubt, man ärgere seinen HundWarnung vor dem Menschen

Foto: privat

Vogelfluglinie

von Rebecca Clare Sanger

Der Regen ist noch nicht angekommen. Aber es bläst ein kräftiger Wind, die Hauptstraße macht einen Knick, wir machen einen weiteren, gleich nach der Kurve, rein in ihre Einfahrt. Seit Wochen liegt mir Reem in den Ohren: Sie wolle einen Hund, ob ich meinen nicht mal mitbringen könnte, dann könnten wir mit ihm spazieren gehen.

Da es mir nicht gelungen ist, einen anderen, für diesen Zweck besser geeigneten Hund zu mobilisieren, sitzt also mein eigener hinten drin – müde, zufrieden und unwillig, den Kofferraum zu verlassen.

Als Reem und ihre Schwester ans Fenster klopfen, wütet er ungnädig zurück. Nun stehen meine Kinder, der Hund und ich also plötzlich allein an der Straßenecke – Reem nästelt noch an ihrer Jacke, ruft nach ihrer Schwester. „Wenn du einen Hund haben willst, darfst du vor bellenden aggressiven Hunden keine Angst haben“, rufe ich mit erfahrener Stimme um die Ecke. Als wir anschließend – dann doch alle zusammen – Seite an Seite die Landstraße entlanggehen, traut sich Reem, die Leine zu nehmen, und redet meinem Hund besser zu als ich in zehn Jahren, und das einzige Problem sind meine Kinder, die getragen werden wollen.

Als sie das Trampolin im Vordergarten sehen, können sie doch wieder selbst gehen. Reem redet über Hunde, Fatma hat sich ihr Kopftuch umgebunden und bringt Kekse aus der örtlichen Keksfabrik, in der sie ein Praktikum macht. Wir sitzen auf dem Trampolin, ihren Kindern schmecken die Kekse nicht, meine nehmen dafür fünf auf einmal, und im Haus gegenüber bellt ein Hund. „Wau, wau!“, rufen Reem und ihre Schwestern durchs Trampolinnetz.

Von gegenüber wird zurückgebellt: „Könnt ihr wohl aufhören, den Hund zu ärgern!“, sagt das Haus, und es hat eine angesäuerte Frauenstimme.

„Sie ärgern ihn doch gar nicht“, rufe ich zurück, Reem hat sich erschrocken auf die Mitte der Springfläche zurückgezogen.

„Natürlich ärgern die ihn!“, bleibt das Haus stur, und weder Hund noch Halter kommen her­aus.

„Sie wünscht sich doch selber einen Hund“, rufe ich, „sie will nur spielen!“

Dem Haus ist nun die Luft ausgegangen. Still sitzt es zwischen den selbstgemachten Gelees, die links an der Straße zum Verkauf stehen, und den Rigipsplatten für irgendein Bauvorhaben, einem architektonischen Merkmal so vieler Häuser in der Gegend.

„Hier könnten die Nachbarn sterben, und keiner würde es merken,“ sagt Fatma, wir sitzen in der Sicherheit des Fangnetzes, und flüstern beinahe. Drüben bleibt es mäusestill. Ein bisschen was – ist wohl schon tot.

Rebecca Clare Sanger pendelt mit Mann und Kindern zwischen Hamburg und der dänischen Insel Møn; was sie dabei erlebt, steht alle zwei Wochen an dieser Stelle.

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