piwik no script img

Archiv-Artikel

BARBARA BOLLWAHN über ROTKÄPPCHEN Ich kann mich nicht beherrschen

Mit der Wende sind sie verschwunden, jetzt tauchen sie wieder auf: die Kopfnoten im Schulzeugnis

Mein Zeugnisheft befindet sich in einem tadellosen Zustand. Das liegt zum einen an den langlebigen Schweißnähten des violetten Umschlags aus dem Volkseigenen Betrieb Colorplast. Aber hauptsächlich ist es den Kopfnoten zu verdanken, die ich im Oberschulkombinat und später an der Erweiterten Oberschule für Betragen, Fleiß, Ordnung und Mitarbeit bekommen habe. Kein einziges Eselsohr, kein Tintenfleck, keine eingerissenen Seiten.

Im Westen wurden die Kopfnoten für Sekundärtugenden in den 60ern und 70ern bis auf wenige Ausnahmen wie Baden-Württemberg abgeschafft. Im Osten verschwanden sie mit der Wende. Doch sie sind wieder auf dem Vormarsch. Ausnahmsweise gut verteilt auf Ost und West. In Niedersachsen, Bayern, Sachsen und Sachsen-Anhalt gibt es sie schon, Nordrhein-Westfalen und Brandenburg wollen bald auch nicht mehr kopflos sein.

Aber Kopfnoten sind nicht gleich Kopfnoten. Während ich mich in das sozialistische Kollektiv einfügen sollte, ist jetzt Teamfähigkeit gefragt. Ging es bei mir um den Klassenstandpunkt, heißt es jetzt Konfliktfähigkeit. Unter dem Begriff „Arbeits- und Sozialverhalten“ feiern sie Wiederauferstehung. Führt das Benoten von Lern- und Leistungsbereitschaft, Zuverlässigkeit, Sorgfalt, Ausdauer, Belastbarkeit und Selbstständigkeit zur Stigmatisierung von Schülern? Oder muss man sie einfach zu ihrem Glück zwingen?

Meine Haltung ist zwiespältig. In den ersten Schuljahren empfand ich die Kopfnoten als tolle Anerkennung. Das ist nicht verwunderlich. Von der ersten bis zur dritten Klasse, als ich Bärbel statt Barbara gerufen wurde, hatte ich in Betragen, Ordnung, Fleiß und Mitarbeit eine 1. Auch die schriftlichen Urteile waren der helle Wahnsinn. Erste Klasse: „Bärbels Mitarbeit ist vorbildlich. Ihr übertragene Aufgaben erfüllt sie gewissenhaft. Sie lernt zielstrebig und ist stets bemüht, ihre guten Leistungen weiter zu steigern. Zu ihren Mitschülern hat sie ein gutes Verhältnis.“ Zweite Klasse: „Bärbel erfasst gut Zusammenhänge und arbeitet sehr gründlich. Sie ist zuverlässig und hilfsbereit. Die Ordnung ihres Arbeitsmaterials ist vorbildlich. Ihr Verhalten ist ohne Tadel.“ Dritte Klasse: „Bärbels Lerneinstellung ist sehr gut. Sie arbeitet fleißig und konzentriert im Unterricht mit. Ihre Heftführung ist sauber.“ Mann, was war ich stolz damals.

In der vierten Klasse hatte ich in Betragen plötzlich eine 2. Leider sagt die Gesamteinschätzung nicht, warum. „Bärbel lernt schnell, kann logisch denken und findet auch selbständig Zusammenhänge“, steht stattdessen im Heft. Und: „Sie ordnet sich gut in das Kollektiv ein.“ Im fünften Schuljahr wurde die 2 in Betragen begründet: „Ihr impulsives Verhalten wirkte manchmal störend. Bärbel muss sich besser beherrschen lernen.“ Ich lernte es nicht. Auch in der sechsten Klasse hieß es in der Gesamteinschätzung: „Bärbel muss noch lernen, in jedem Fall ihre Unbeherrschtheit zu überwinden.“ Die gebetsmühlenhafte Aufforderung zu mehr Disziplin, die ich meinen Eltern zur Unterschrift vorlegen musste, verfehlte ihre Wirkung nicht. Am 3. Juli 1976 verfasste ich in meinem Tagebuch, in dem ich mich in erster Linie über erste Erfahrungen mit Jungs ausließ, einen Eintrag zu meinen Noten: „Ich war mit meinem Zeugnis sehr zufrieden“, schrieb ich. „Ich habe das zweitbeste.“ Aber ich hatte auch verstanden. „Ich muss mich sehr anstrengen, dass ich studieren kann. Ich nehme mir vor, die 2 in Betragen wegzubringen.“ Ich war fest entschlossen und ergänzte in Klammern „Hoffentlich klappt’s!?“

Es hat nicht geklappt. Im Zeugnis der 7. Klasse stand bei Betragen wieder eine 2. In der Gesamteinschätzung hieß es erneut: „Bärbel muss es noch lernen, auf angebrachte Kritik sachlicher zu reagieren.“ Ich war 13, und die Kopfnoten gingen mir am Arsch vorbei. Am 4. Februar 1977 schrieb ich in mein Tagebuch: „In Betragen möchte ich gar nicht auf eine 1 kommen. Das sieht so aus wie’n Musterschüler.“ Unbeherrscht bin ich auch manchmal noch heute. Aber dafür befindet sich mein Tagebuch in einem ebenso tadellosen Zustand wie mein Zeugnisheft.

Fragen an die Schülerin? kolumne@taz.de Morgen: Dieter Baumann über LAUFEN