BARBARA BOLLWAHN über ROTKÄPPCHEN : Wie ich lernte, Karl Marx zu lieben
Früher hatte ich Angst, der gewichtige Philosoph könnte mich erschlagen. Jetzt will ich, dass er bleibt
Karl Marx und ich, das ist ein schwieriges Verhältnis. 81 Jahre bevor ich auf die Welt kam, ist der Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus gestorben. Trotzdem ist er mir auf Schritt und Tritt gefolgt. Jahrelang wurde mir in der Schule der Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat eingetrichtert. Als ich später an der nach ihm benannten Universität in Leipzig studierte, musste ich morgens halb acht Marxismus-Leninismus-Seminare besuchen. Damit sich niemand seiner Ideologie entziehen konnte, herrschte Anwesenheitspflicht.
Doch damit nicht genug. Jeden Tag auf dem Weg zur Uni hatte ich Angst, dass er mich erschlagen könnte. Über dem Eingang zum Hauptgebäude hing ein monströses Bronzerelief. Auf 14 mal 7 Meter schaute der Philosoph über den nach ihm benannten Platz, umgeben von Studenten, die entschlossen in eine sozialistische Zukunft blickten. Wenn ich unter dem 33 Tonnen schweren Portal entlanglief, bildete ich mir ein, ich würde Karl Marx unterwandern. Das nahm dem Ganzen ein wenig die propagandistische Schwere. Aber es änderte nichts daran, dass ich das Relief potthässlich und erdrückend fand. Obwohl es den verheißungsvollen Namen „Der Aufbruch“ trug, wünschte ich seinen Untergang.
Fast 17 Jahre nachdem ich montags im Schatten des Reliefs für Freiheit demonstriert habe, geht dieser Wunsch nun in Erfüllung. Die Marxplastik wird abgebaut. Sie muss einem Neubau des Universitätscampus weichen. Doch komischerweise will keine rechte Freude bei mir aufkommen. Jetzt, wo der Mann mit dem Bart mir nichts mehr anhaben kann, bin ich dafür, dass er bleibt. 33 Jahre hing er dort und gehörte zu Leipzig wie Bach und Goethe, wie das Völkerschlachtdenkmal und die Leipziger Lerchen, diese süßen Törtchen aus Mürbeteig und Marzipan. Marx sollte nach der Sprengung der Universitätskirche durch Walter Ulbricht die neue Zeit demonstrieren. Einen neuen Geist, der längst ein alter ist.
Jetzt wird „Der Aufbruch“ erst einmal auf einem Betriebsbahnhof zwischengelagert. Bis über sein weiteres Schicksal entschieden ist. Den 1953 verliehenen Namen Karl Marx hatte die Universität bereits sechs Monate nach der Wiedervereinigung abgelegt und das Logo KMU Leipzig aus ihren Briefköpfen gestrichen. Das war am 11. März 1991. Das Datum weiß ich noch so genau, weil der 11. März mein Geburtstag ist. Für mich war das ein guter Anlass, noch einmal in meiner Abschlussbeurteilung der Alma Mater Lipsiensis von 1986 zu lesen: „Barbara Bollwahn vertrat stets ihre marxistisch-leninistische Grundüberzeugung.“
Dass ich nicht lache. Diese vermeintliche Grundüberzeugung ist dem Umstand geschuldet, dass ich einmal in der Woche in aller Herrgottsfrühe brav meinen Namen in die Anwesenheitsliste eintrug. Anwesenheit gleich Marxist. In der Abschlussprüfung, wo allein die physische Präsenz nicht reichte, bekam ich die Note 3, befriedigend.
Das ist jetzt 20 Jahre her. Genau so lange steht in meinem Bücherregal ein Bildband über Leipzig, den mir meine Eltern zum Studienbeginn geschenkt haben. Darin sind Sätze geschrieben, wie sie damals üblich waren: „Mit dem Proletariat trat eine Klasse in die Arena der Geschichte, die den wichtigsten Gedanken von Karl Marx zu verwirklichen lernte: dass eine klassenlose, von Ausbeutung befreite Gesellschaft erst dann geschaffen werden kann, wenn das Proletariat die politische Macht erobert.“
Doch der Begleittext zu den Fotos ist auch eine seltsame Liebeserklärung an die Stadt: „Erst die Trennung macht das Wiedersehen schön und die bittere Stunde vom Tag vorher uns heute erst froh. Aber selbst als du gestern weintest, Geliebte, weintest du nicht aus Verzweiflung. Denn du warst dir gewiss: Alles wird gut.“
Das Beste an dem Bildband aber ist die Widmung, die mir meine Eltern reingeschrieben haben. „Der Bärbel als Orientierungshilfe beim ersten Zurechtfinden im altehrwürdigen Leipzig. Von Mutti und Papa.“ Ein frommer Wunsch, der jetzt in Erfüllung geht.
Fragen zu Marx? kolumne@taz.de Morgen: Barbara Dribbusch über KLATSCH