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Archiv-Artikel

BARBARA BOLLWAHN über ROTKÄPPCHEN Eine sozialistische Kettenreaktion

Die Staatssicherheit hat Personen und Vorgänge frei erfunden. Ja und? Auch ich habe Sachen erfunden

Das ist ja unglaublich. Die Damen und Herren der Staatssicherheit haben nicht nur in Schlüssellöcher geschaut und notiert, was sie gesehen und gehört haben. Über staatsfeindliche Äußerungen, Fluchtpläne bis hin zur Uhrzeit von Briefkasten- und Blasenentleerungen. Zur Sicherung der Staatsmacht haben sie George Orwells „1984“ mit seinem totalitären Überwachungsstaat samt Gedankenpolizei mehr als alle Ehre gemacht.

Die Jungs in der DDR haben es sogar geschafft, das ganze System ad absurdum zu führen. Indem sie inoffizielle Mitarbeiter und Verpflichtungserklärungen von Personen verwaltet haben, die es gar nicht gab. Die einzig und allein ihrer Fantasie entsprungen waren.

Aktenfunde belegen, dass es komplett erfundene IMs gab. Echte falsche Spitzel also. Um sich wichtig zu machen. Um im Ministerium mit Planübererfüllung zu glänzen. Um die Spesenrechnung hochzutreiben. Ei der Daus!

Ist das so überraschend? Finde ich nicht. Ich habe mir zwar keine Personen ausgedacht, über die ich Berichte verfasst und mit denen ich imaginären Schnaps getrunken habe. Aber ich habe Berichte über reale Menschen geschrieben, die erstunken und erlogen waren. Ich habe Sachverhalte dargelegt und Angaben niedergeschrieben, die nicht stimmten. Ja, das habe ich gemacht.

Warum ich solche Lug-und-Trug-Geschichten verfasst habe? Dafür gibt es eine simple Erklärung: Als ich beim VEB Reisebüro in Ostberlin während des Studiums ein Praktikum gemacht habe, musste über jede Reisegruppe ein Bericht vorgelegt werden. Hat jemand schlecht über den Sozialismus gesprochen? Wurden staatschädigende Bemerkungen gemacht? Haben sich systemgefährdende Gesinnungen offenbart?

Der Staat, die Stasi wollten natürlich jedes Aufbegehren im Keim ersticken, logisch. Hätte ich mich geweigert, Berichte zu schreiben, hätten bald andere Berichte über mich verfasst. Ich selbst konnte aber entscheiden, ob ich bei der Wahrheit bleibe oder mir etwas ausdenke. Ich habe mich fürs Ausdenken entschieden.

Als ich eine Woche lang eine Gruppe kubanischer Touristen betreute, ging es hoch her. Wir haben jede Menge Fidel- und Honecker-Witze erzählt und uns jeden Tag aufs Neue gefragt, wo wir stehen, was unsere Klassenstandpunkte sind. Mit Rum haben wir uns unsere sozialistischen Heimatländer schließlich schöngetrunken. In meinem Bericht habe ich darüber natürlich nichts geschrieben. Da habe ich die deutsch-kubanische Völkerfreundschaft hochleben lassen, dass es eine wahre Freude war.

Die Stasifritzen, die mit erfundenen Berichten höhere Spesen abrechnen wollten, wurden schon zu DDR-Zeiten abgesägt. Ich aber bekam für meine erfundenen Berichte Worte der Anerkennung! In meiner Abschlussbeurteilung der Karl-Marx-Universität vom Sommer 1986 heißt es: „Die Studentin Barbara Bollwahn absolvierte ihr Praktikum beim VEB Reisebüro Berlin. In einem Dankschreiben einer Reisegruppe aus Kuba an die Generaldirektion des Reisebüros in Berlin kommt zum Ausdruck, dass ihre Tätigkeit als Reiseleiterin sehr hoch eingeschätzt wurde. Dabei zeigte sie einen festen Klassenstandpunkt, der sich besonders in Diskussionen zu politischen Fragen äußerte.“

Es ist zum Piepen. Letztendlich waren alle nur noch am Lügen. Zuerst ich in meinem Bericht über die Kubaner. Dann die Kubaner in ihrem Dankschreiben über mich. Schließlich die Generaldirektion des Reisebüros in ihrem Lob über den gelungenen Aufenthalt. Eine Kettenreaktion hatte sich in Gang gesetzt, die nicht mehr aufzuhalten war. Die Karl-Marx-Universität bescheinigte mir als logische Konsequenz in meinem Zeugnis: „Barbara Bollwahn hat stets eine marxistisch-leninistische Grundüberzeugung vertreten.“

Zack!, war eine Person erfunden, die es nur auf dem Papier gab. In der Realität gab es natürlich keine Barbara Bollwahn mit einer marxistisch-leninistischen Grundüberzeugung. Wenn man so will, war ich ein sozialistischer Klon.

BARBARA BOLLWAHN

ROTKÄPPCHEN Fragen an den Klon? kolumne@taz.de Morgen: Barbara Dribbusch über GERÜCHTE