Avantgarde in Mc Pomm: Mächtiger Zufall
Schwerin und den französischen Künstler Marcel Duchamp verbindet nichts. Trotzdem befindet sich in Schwerin Europas größte Duchamp-Sammlung.
SCHWERIN taz | Bezeichnend ist die Geschichte von dem Reiseführer, in dem stand, Schwerin sei die Geburtsstadt von Marcel Duchamp. Wenn das stimmen würde, dann wäre einleuchtend, warum Schwerin die größte Duchamp-Sammlung in Europa hat – und ein Marcel Duchamp-Forschungszentrum dazu.
Aber die Geschichte in dem Reiseführer stimmt nicht. Duchamp wurde nicht in Schwerin geboren, sondern in Blainville-Crevon in der Nähe von Rouen. Er ist auch nicht in Schwerin gestorben, sondern in Neuilly-sur-Seine in der Nähe von Paris. Er hat nie in Schwerin gelebt, sondern in Paris und New York. Immerhin lebte er mal in München. Aber nur für zwei Monate.
Duchamp ist ein französischer Künstler der Avantgarde, vielen bekannt durch das Pissbecken aus dem Jahr 1917, das unter dem Namen „Fountain“ in die Kunstgeschichte eingegangen ist. Schwerin ist eine Stadt der mecklenburgischen Herzoge, bekannt durch die vielen klassizistischen Bauten, die nach der Wende frisch renoviert wurden. Duchamp und Schwerin haben nichts gemein, weder biografisch noch ideell.
Zusammen gekommen sind die beiden durch Kornelia von Berswordt-Wallrabe, die Direktorin des Staatlichen Museums Schwerin in den Jahren 1993 bis 2009. Von Berswordt-Wallrabe bewarb sich vom Kunstverein Wiesbaden nach Schwerin. Damals habe sie nicht gewusst, wo die Stadt liege, sagte sie später.
Das Staatliche Museum Schwerin war Anfang der 1990er berühmt für seine Sammlung holländischer und flämischer Malerei des 16. bis 18. Jahrhunderts. Im Kunstverein Wiesbaden hatte von Berswordt-Wallrabe unter anderem eine größere Ausstellung über den Avantgarde-Künstler und Neue Musik-Komponisten John Cage gemacht.
New York, Schwerin
Als sie in Schwerin angekommen war, bekam sie die Chance, 15 Arbeiten von John Cage für Schwerin aufzukaufen und tat dies der Horizonterweiterung wegen. Dann fand sie, dass es nötig sei, sich nun auch für Duchamp zu interessieren – Cage und Duchamp waren befreundet und arbeiteten von Zeit zu Zeit zusammen. Von Berswordt-Wallrabe stieß auf den belgischen Sammler Ronny van de Velde, der bereit war, seine Duchamp-Sammlung zu verkaufen. Von Berswordt-Wallrabe wollte zuschlagen: Es war die Chance, das Staatliche Museum Schwerin zu profilieren. Auf dem Feld Duchamp würde Schwerin damit auf einen Schlag internationale Bedeutung erlangen. Das Museum würde in einem Atemzug genannt werden mit London, Stockholm und New York.
Von Berswordt-Wallrabe hatte mit der Idee keinen leichten Stand, zumal sie Geld kostete, das irgendwo herkommen musste. Sie ging zum Land Mecklenburg-Vorpommern. „Da haben sie mir gesagt: ’Wir haben die Holländer, warum sollen wir jetzt sowas ankaufen?‘“ Auch beim Sparkassen- und Giroverband habe man ihr gesagt: „Wissen Sie, passen Sie mal auf Ihre Holländer auf.“ Aber sie blieb hartnäckig. Ihr Argument: „Die Herzoge haben die Niederländer als zeitgenössische Kunst gekauft. Wir tun das Gleiche, wenn wir Duchamp kaufen.“
Von Berswordt-Wallrabe schaffte es schließlich, dass der Bund, das Land Mecklenburg-Vorpommern und die Norddeutsche Landesbank den Kauf finanzierten. 1998 war das Geld zusammen: Das Museum kaufte 69 Arbeiten für fünf Millionen D-Mark. Mittlerweile umfasst die Sammlung 90 Werke. Ein Teil davon ist in der aktuellen Dauerausstellung zu sehen.
„Der Sammlungskauf wurde von der lokalen Presse nicht wahrgenommen“, sagt von Berswordt-Wallrabe heute. 1998 zeigte das Museum die neue Sammlung und von Berswordt-Wallrabe veranstaltete das erste Duchamp-Symposium. 2009 ging sie in Ruhestand. Im selben Jahr wurde am Staatlichen Museum Schwerin das Duchamp-Forschungszentrum gegründet.
Das Forschungszentrum besteht aus drei Mitarbeitern, die unter anderem die Schriftenreihe Poiesis heraus- und ein Forschungsstipendium vergeben. „Das besondere hier ist, dass man die Sammlung sehen und mit ihr arbeiten kann“, sagt Mitarbeiterin Katharina Uhl. Das Forschungszentrum befindet sich im Hinterhof des Museums in einer Villa, die einst die Russen als Kaserne genutzt hatten.
Eine direkte Verbindung zum 1968 verstorbenen Duchamp schafft eine Pflanze, die am Fenster steht. Sie heißt der „Mottenkönig“ und ist Ableger einer Pflanze, die einmal Duchamp gehörte. Der soll den Ableger in den 1960er-Jahren dem New Yorker Künstler Jasper Johns mitgebracht haben, der wiederum einen Ableger dem damaligen Direktor der Baseler Kunsthalle Carlo Huber schenkte. Von dort aus gelangte ein Ableger des Mottenkönigs zu einem Lübecker Architekten, der wiederum das Forschungszentrum in Schwerin beschenkte.
Mit dem Mottenkönig scheint es der gleiche Vorgang gewesen zu sein, der auch die Sammlung Ronny van de Veldes nach Schwerin brachte: Jemand kommt in eine fremde Stadt und kennt jemand, der jemanden kennt, der etwas mit Duchamp zu tun hat. Duchamps Werk geht dann auf die Reise von einem Kontakt zum nächsten und am Ende landet es auf einem Flecken Erde, den niemand vorhergesehen hätte.
Zufall als Konzept
Es ist der Zufall, der Duchamp nach Schwerin brachte. Zugleich ist es der Zufall, der, als Konzept verstanden, von Duchamp in die Kunstproduktion eingeführt wurde. Im Jahr 1913 ließ er bei seinem Werk „Drei Musterfäden“ drei Fäden aus der Höhe von einem Meter waagrecht fallen. So wie sie gefallen waren, fixierte er sie auf drei Glasplatten. Er nannte das „konservierten Zufall“. Seitdem gilt Duchamp als der Gründungsvater der Zufallsästhetik.
Die sogenannten Ready-mades waren dann nichts anderes als Alltagsgegenstände, die Duchamp zur Kunst erhob. Er stellte den Begriff davon, was ein Kunstwerk ist und was nicht, radikal in Frage und zeigte, dass es lediglich die Zuschreibung des Kunstbetriebs ist, die einen Gegenstand zur Kunst macht. Sein Ansatz, statt eines Werks die Idee in den Mittelpunkt des künstlerischen Schaffens zu stellen und nicht ein physisches Werk, hat die Kunstproduktion und -rezeption nachhaltig bereichert und verändert.
Sein Einfluss und seine Verehrung reichen weit. Eine von vielen Geschichten ist die des französischen Konzeptkünstlers Pierre Granoux, der vorschlug, eine Straße in Schwerin umzubenennen in „Rue Marcel Duchamps“. Auf die Idee war Granoux gekommen beim Lesen des Reiseführers mit den falschen biografischen Angaben. Granoux wollte den Scherz weiter treiben. Angeboten hätte sich die Straße, an der sich das Forschungszentrum befindet.
Aber dazu kam es nicht: Nach wie vor muss das Forschungszentrum mit der Adresse vorliebnehmen, die seit Menschengedenken für dieses Haus gilt. Sie lautet: Alter Garten 3.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!