Autor über Aufruhr in Griechenland: Die "Zellen"-Gesellschaft
Griechenland kommt nicht zur Ruhe. Der griechische Schriftsteller Petros Markaris über die mangelnde Integrationsfähigkeit einer zersplitterten Gesellschaft.
Der Stadtteil Exarchia liegt im Zentrum von Athen und ist eines seiner schönsten Viertel. Während der Militärdiktatur war Exarchia das Zentrum des Drogenhandels in Athen. Seit Anfang der Neunzigerjahre hat sich das Viertel in eine Szene für Anarchisten und Autonome verwandelt, die in nächster Nachbarschaft mit Künstlern, Akademikern, Schriftstellern, aber auch mit normalen Kleinbürgern leben. Als am Abend des 6. Dezember ein Polizist den jungen Alexandros Grigoropoulos kaltblütig erschoss, entlud sich über ganz Griechenland eine Gewaltwelle, die bis heute nicht verebbt ist.
Es sind in Griechenland nicht nur die "altbekannten" Randalierer (wie man sie hier gerne nennt), sondern es sind mehrheitlich 15- und 16-jährige Jugendliche, die zuletzt die Stadt durchstreiften und massiv Banken, öffentliche Gebäude, aber auch Geschäfte (darunter mehrere Buchläden) angriffen. Und auch im neuen Jahr lodern die Proteste unversöhnlich auf. Anfang Januar schossen Unbekannte im Namen einer linken Gruppe auf einen Polizisten, und erst vergangenen Samstag kam es erneut zu heftigen Straßenkrawallen in Athen.
Die Politiker, die Journalisten, die Akademiker und die Künstler, alle wundern sich: Woher kommt dieses Gewaltpotenzial? Dabei ist es ein offenes Geheimnis, das keiner aussprechen will. Es geht um Wut und Gewalt, die sich seit Jahren in Griechenland angestaut haben. Wir Griechen, und vor allem unsere politische Klasse, haben kräftig daran gearbeitet.
Die griechische Gesellschaft hat sich nach dem EU-Beitritt von der armen, aber solidarischen Gesellschaft eines Balkanlandes, in der die Nachbarschaft und die Verwandtschaft das Rückgrat des Zusammenlebens bildeten, in eine "Zellen"-Gesellschaft entwickelt. Jede Zelle tritt für ihre eigene Interessen ein, die sie vehement verteidigt, und schert sich nicht darum, ob die anderen Zellen darunter leiden oder beschädigt werden.
Die Studentenbewegung ist ein gutes Beispiel dafür. Fast jede Woche, manchmal auch zweimal in der Woche, haben wir eine Studentendemonstration. Das Zentrum wird dann abgeriegelt, es fahren keine Busse mehr, und die Taxis vermeiden das Stadtzentrum um jeden Preis. Für den armen, hilflosen Athener bleibt nur noch die U-Bahn übrig. Den Studenten aber ist es völlig egal, ob die Geschäfte durch ihre Demonstrationen materiellen Schaden erleiden. Wichtig ist ihnen ihre eigene Zelle. Was mit den anderen passiert, ist nicht ihre Sache.
Ein zweites Beispiel sind die Gewerkschaften. Wenn der Zentralverband der Gewerkschaften einen Generalstreik ausruft, dann verstehen darunter alle Griechen einen "Generalstreik der öffentlichen Dienste". Die Zelle "Staatsapparat" streikt, während der ganze Privatsektor mit seinen Arbeitern und Beschäftigten wie an jedem anderen Tag arbeitet. Wenn am nächsten Tag in den Zeitungen zu lesen ist, dass Athen lahmgelegt wurde, dann weiß jeder Athener, dass das nicht die Folge eines erfolgreichen Generalstreiks war, sondern der streikenden Bus- und U-Bahn-Fahrer. Dass dadurch zehntausende arbeitende Bürger zweimal am Tag nur mit großer Mühe ihren Arbeitsplatz beziehungsweise ihre Wohnung erreichen können, ist dem Zentralverband der Gewerkschaften völlig egal. Sie sind ja nicht Mitglieder der Zelle "Staatsapparat".
Der härteste - und gefährlichste - Kern dieser Zellengesellschaft ist die politische Klasse. Alle andere Zellen verteidigen ihre Eigeninteressen zulasten der Bevölkerung, keine andere Zelle aber bestimmt das Schicksal der Bevölkerung.
In den letzten sieben Jahren, seit 2001, sind die Griechen Zeugen einer politischen Realität von Vetternwirtschaft und Skandalen, in die, abgesehen von den linken Parteien, viele Politiker verwickelt sind. Vom Börsenskandal der Regierung Simitis bis zu den Skandalen der Regierung Karamanlis, vom Siemens-Skandal bis zum Skandal des Vatopedion-Klosters plus einer Reihe von kleineren Skandalen hat kein einziger bis jetzt die Justiz erreicht. Im Gegenteil, wir sehen zu, wie der Generalstaatsanwalt die Minister der Regierung vom Vatopedion-Skandal vorab freispricht, bevor noch die Gerichte sich damit befasst hätten. Hinzu kommt noch eine Linke, die machtlos, weil gespalten ist und einen gegenseitigen Kleinkrieg führt, der die Bevölkerung völlig kalt lässt.
Als ob das nicht genug wäre, steckt das Land in der tiefsten Wirtschaftskrise der letzten dreißig Jahre, aber keine der Parteien kümmert sich ernsthaft darum. Die Regierung versucht mit Tricks die wirkliche wirtschaftliche und finanzielle Lage des Landes vor den Bürgern zu verheimlichen, weil sie schwach und entmachtet ist, sich aber trotzdem an der Macht halten will.
In seiner Einführung in die "Menschliche Komödie" spricht Honoré de Balzac von einem "institutionellen Land" (pays legal) und einem "realen Land" (pays réel). Das "institutionelle Land" ist das Land der Politik, der öffentlichen Dienste, der Justiz, während das "reale Land" den Handel, die Mode, die Unterhaltung und so weiter umfasst. Diese beiden Länder leben nicht harmonisch miteinander, sondern haben eher ein gespanntes Verhältnis. In keinem anderen europäischen Staat wird aber das "institutionelle Land" vom "realen Land" so stark verabscheut wie in Griechenland. Der Durchschnittsgrieche sieht im "institutionellen Land" einen Gegner, der ihn daran hindert, ordentlich zu leben und sich zu entwickeln. Warum sollten also, angesichts dieser Situation, die jungen Leute nicht empört, ja sogar wütend sein? Die ganze Bevölkerung ist seit Jahren empört. Die jungen Leute verkörpern diese Empörung viel radikaler, weil sie Angst haben und total verunsichert sind. Sie sehen den Albtraum von Arbeitslosigkeit vor sich und wissen, dass sie sich bestenfalls mit 500-Euro-Gelegenheitsjobs werden begnügen müssen, die zu ihrem jahrelangen Studium in keinerlei Beziehung stehen.
Die jungen Leute und vor allem die Studenten sind aber nicht so ganz unschuldig. Sie haben sich jahrelang jedem Ansatz von Reformen im Bildungssystem vehement widersetzt und dafür gekämpft, dass alles beim Alten bleibt. Was ist das aber für ein Aufstand, der für den Status quo kämpft? Sie besetzen die Universitäten, die Vorlesungen werden wochenlang unterbrochen, und am Ende bekommen sie ein Diplom, das auf dem Arbeitsmarkt kaum das Papier wert ist, auf dem es geschrieben wird. Schlimmer noch, sie werden in ihrem Bestreben von den beiden linken Parteien unterstützt, weil diese ihre oppositionelle Arbeit so verstehen, dass sie jeden Reformvorschlag, der von der jeweiligen Regierung kommt, ablehnen.
Nun kommt die berechtigte Frage: Und wie sieht die Zukunft aus? Düster, ist meine Antwort. Meine größte Angst besteht darin, dass auch bei uns eine Art "griechischer Berlusconismus" gedeihen könnte. Wenn man die Parallelen mit Italien sieht, klingt das nicht so abwegig. Auch in Italien versagten die Christlichen Demokraten, dann kamen die Sozialisten, mit ihren Skandalen und der Operation "reine Hände", und am Ende der Reihe wartete dann Silvio Berlusconi.
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