Autor Sepúlveda über Chile: "Sie wollen alles ändern"
Der Schriftsteller Luis Sepúlveda über seinen Kriminalroman "Der Schatten dessen, was wir waren", seine 68er-Generation und die neue Studentenbewegung in Chile.
taz: Herr Sepúlveda, soeben ist Ihr neuester Roman "Der Schatten dessen, was wir waren" auf Deutsch erschienen. Das Buch erzählt von einer Gruppe von Leuten, die nach vielen Jahren in einem Viertel in Santiago de Chile wieder zusammentrifft. Was ist der Faden, der die Protagonisten des Romans miteinander verbindet?
Luís Sepúlveda: Alle sind Veteranen der Achtundsechzigergeneration, Leute, die aktiv waren in der Unidad Popular und sich an den revolutionären Prozessen der Regierung Salvador Allendes beteiligten. Sie sind gezeichnet von einer großen Niederlage. Nach dem 11. September 1973, dem Tag der Niederlage, geriet ihr Leben aus dem Gleichgewicht. In dem Roman vereint sie außerdem eine gemeinsame Idee, der Plan einer "letzten Schlacht".
Warum haben Sie für diese Erzählung das Format des Kriminalromans gewählt?
Ich wollte diesen Roman als lateinamerikanischen Krimi schreiben, da dieses besondere Format mehr als andere Genres in ganz spezieller Weise die Realität aufgreift. Außerdem gab es mir die Möglichkeit, die Geschichte möglichst dynamisch zu erzählen.
Ein chilenischer Kriminalinspektor, der Radio Cooperativa hört - ist das wirklich realistisch?
Ja, das ist es. Tatsächlich waren Leute an der Wiederherstellung der Demokratie beteiligt, die während der Diktatur gezwungen waren, für sie zu arbeiten, weil sie Angestellte waren oder Polizisten. Nicht alle haben deswegen schmutzige Hände. Und viele von ihnen haben in ihrem Rahmen mit dazu beigetragen, die Diktatur zu beenden. Der Kommissar und seine wesentlich jüngere Kollegin repräsentieren eben diese widersprüchliche Realität des heutigen Chile.
Der Aktivist: 1949 im Norden Chiles geboren. Gehörte zur chilenischen Sektion des guevaristischen Ejercito de Liberación Nacional (ELN). Während der Unidad Popular war er Teil der Grupo de Amigos Personales (GAP), der Leibwache Salvador Allendes. Nach Pinochets Militärputsch gefangen genommen. Auf internationalen Druck konnte er 1976 Chile verlassen. 1979 beteiligte er sich an der sandinistischen Revolution in Nicaragua. Enttäuscht von der dortigen Entwicklung ging er 1980 nach Hamburg. Seit 1996 lebt er in Gijón, Spanien.
Seine Bücher: "Der Schatten dessen, was wir waren" (Rotpunkt Verlag, Zürich 2011), "Tagebuch eines sentimentalen Killers" (1999), "Patagonia Express" (1998), "Die Spur führt nach Feuerland" (1997), "Wie Kater Zorbas der kleinen Möwe das Fliegen beibrachte" (1997), "Der Alte, der Liebesromane las" (1991).
"Der Schatten dessen, was wir waren" handelt auch von Menschen, die sich nach Jahren im Exil entschieden haben, wieder nach Chile zurückzukehren. Mit welchen Problemen sahen sich die Rückkehrer konfrontiert?
Nicht nur die Rückkehr nach Chile, sondern jede Rückkehr in ein Land, das du gezwungenermaßen verlassen hast, ist eine traumatische Erfahrung. Tatsächlich kehrst du danach niemals in das gleiche Land zurück. Nach unserer Rückkehr mussten wir feststellen, dass sich Chile sehr viel stärker verändert hatte, als wir uns das je hätten vorstellen können. Erst danach begann das eigentliche Exil. Wir fühlten uns viel fremder, als wir uns in Schweden, Spanien oder Deutschland jemals gefühlt hatten. Die Diktatur hatte die Gesellschaft sehr fest geprägt. Sie hinterließ ein schreckliches Erbe.
Nach Stationen in verschiedenen Ländern Lateinamerikas und Europas leben Sie heute in Gijón in Spanien. Warum?
Jeder hat natürlich seine eigenen Erfahrungen gemacht. Ich habe 1990, direkt nach der Diktatur, versucht, nach Chile zurückzukehren. Doch ich musste schnell feststellen, dass ich dort sehr wenig tun konnte. Aber auch die eigentlichen Protagonisten aus der ersten Reihe des Widerstands gegen die Diktatur wurden sehr bald durch opportunistische Professionelle der Politik ersetzt, die zwanzig Jahre lang eine pseudolinke Regierung bildeten und jetzt eine rechte.
Bereits in einem Gespräch 2003 äußerten Sie starke Zweifel am politischen Willen des damaligen sozialistischen Präsidenten Ricardo Lagos und seiner Mitte-links-Regierung der Concertación, die dringend notwendigen Veränderungen - zum Beispiel im Bildungssystem oder eine neue Verfassung - umzusetzen. Wieso war diese fehlende Entwicklung für Sie damals bereits vorhersehbar?
Bisher hatte noch keine Regierung der Concertación politisch den Willen und den Mut gezeigt, das zu tun, was am notwendigsten gewesen wäre: Und zwar ein Referendum für alle Chilenen einzuberufen, um eine neue Verfassung zu beschließen, eine, die wirklich demokratisch ist und keine politische Kraft und keinen Chilenen mehr von dem Recht ausschließt, mit zu entscheiden.
Denn im Moment ist es so: Alles, was man machen oder nicht machen kann, hängt in Chile davon ab, ob das aktuelle ökonomische Modell davon unberührt bleibt. Derzeit erleben wir dagegen in Chile mit den Studentenprotesten eine Krisensituation. Deren Forderung ist es, endlich jene Gesetze zu ändern, die man schon vor zwanzig Jahren, nach dem Ende der Diktatur, hätte ändern müssen.
Warum wurde Ihrer Meinung nach in den letzten zwanzig Jahre weder die Verfassung noch das weitgehend privatisierte Bildungssystem geändert - beides ein Erbe der Diktatur? Ist dies nur mit einem Mangel an politischem Willen zu erklären oder aber auch den realen Machtverhältnissen geschuldet?
Es ist beides. Von Seiten der Parteien, die die letzten zwanzig Jahre das Land regierten, gab es nicht den geringsten Wunsch, irgendetwas tatsächlich grundlegend zu ändern. Die Verfassung aus Diktaturzeiten, die das Land im Griff hält, erleichtert die Korruption. Alle Regierungen der letzten zwanzig Jahre waren in hohem Maße korrupte Regierungen.
Auf der anderen Seite fehlte etwas, das man Zivilcourage nennt. Sie fehlte, weil die Erinnerung an den Schrecken der Diktatur noch sehr gegenwärtig war. Es bedurfte erst eines Generationswechsels: junge Leute, die teilweise bereits in der Demokratie geboren wurden und keine Furcht vor der Repression haben. Diese Jugendlichen trauen sich heute zu sagen: Wir wollen dieses und jenes ändern. Und das ist das Wunderbarste an der heutigen Studentenbewegung in Chile - sie wollen alles ändern.
Welche Gefühle lösen die aktuellen Nachrichten über die anhaltenden, massiven Studentenproteste in Chile bei Ihnen aus?
Zugleich Freude und Besorgnis. So macht es mir große Freude, den Studenten zuzuhören. Camila Vallejo, eine ihrer Wortführerinnen, ist eine wunderbare, achtzehnjährige junge Frau, die mit einer absoluten Klarheit und Entschiedenheit spricht. Es ist schön zu sehen, wie sie sich von niemanden manipulieren oder vereinnahmen lassen. Merkwürdigerweise nehmen diese Jugendlichen genauso wie meine Generation damals mit achtzehn, neunzehn Jahren auch das Recht für sich in Anspruch, sich irren zu können, aber die Dinge trotzdem sagen zu wollen. Mit Besorgnis reagiere ich allerdings, weil es bereits Morddrohungen gegen Camila Vallejo gegeben hat
Inzwischen beteiligen sich auch die chilenischen Gewerkschaften an den Studentenprotesten. Welche Rolle spielen sie?
Nach dem Ende der Diktatur hat sich die alte gewerkschaftliche Organisierung Chiles nicht wieder erholen können. Seitdem existieren Gewerkschaften nur noch in einer Art Lightversion. Es waren die Studenten, die die Gewerkschaften dazu drängten, sich an den aktuellen Demonstrationen zu beteiligen. Andernfalls hätten sie wohl auch ihre letzte Existenzberechtigung als Vertreter der Arbeiterklasse verspielt.
Die Vehemenz und die Ausdauer der aktuellen Studentenproteste überraschen. Doch wie wollen sie sich gegen die manifesten wirtschaftlichen Interessen, das etablierte und lukrative Geschäft mit der privaten Bildung in Chile durchsetzen?
Diese Interessen sind nicht so mächtig, wie manche Leute glauben. Die Studenten haben damit begonnen, an den Grundfesten des chilenischen Systems zu rütteln. Ein zweiter Schritt müsste sein, dass die Eltern, die sich für das Studium ihrer Kinder verschuldet haben, aufhören, ihre Schulden zu bezahlen - so lange, bis ein Schuldenerlass erreicht wird. Schließlich handelt es sich um Summen in der Höhe eines ganzen Staatshaushalts. Die Leute sind über vierzig, fünfzig Jahre lang verschuldet. So etwas lässt sich nicht aufrechterhalten.
Was müsste sich in Chile ändern, damit eine Rückkehr für Sie infrage käme?
Die Verfassung.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Krieg in der Ukraine
„Weihnachtsgrüße“ aus Moskau
Mangelnde Wirtschaftlichkeit
Pumpspeicher kommt doch nicht
Sport und Krieg in der Ukraine
Helden am Ball
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen