Autor David Jahn über Zivilcourage: "Die Gesellschaft ist beschissen"
Ryan David Jahn hat seinen Debütroman "Ein Akt der Gewalt" vorgelegt. Er schreibt über fehlende Zivilcourage und die Folgen von Feigheit.
taz: Herr Jahn, eine Frau wird niedergestochen und vergewaltigt, über eine quälend lange Zeit hinweg - und dutzende Menschen sehen zu, ohne etwas zu tun. Wie kann das sein?
Ryan David Jahn: Man nennt es Bystander-Effekt. Das ist im Grunde, wenn in einer städtischen Umgebung viele Menschen Zeugen eines Verbrechens werden und jeder irgendwie denkt, ein anderer würde etwas tun. Die Verantwortung wabert diffus zwischen allen und keiner tut etwas.
In einer ländlichen Gegend ist das anders. Nehmen wir den Fall, dass einer mit dem Auto an der Straße liegen bleibt. In der Stadt fahren vielleicht hundert Fahrzeuge innerhalb von zehn Minuten vorbei und keines hält an. Auf dem Land kommt nur ein Auto in einer halben Stunde vorbei und es hält fast sicher an, weil der Fahrer die Verantwortung sieht und sie übernimmt.
Wie sind Sie auf dieses Phänomen und den Fall Kitty Genovese gestoßen?
Zum ersten Mal habe ich vor 15, 16 Jahren in einem Buch mit Fernsehrezensionen darüber gelesen, da wurde der Fall in einem Nebensatz erwähnt. Es hat mich gleich fasziniert. Dann habe ich es erst mal für all die Jahre vergessen. Ich war 15 oder 16 damals, da hatte ich noch nicht vor, einen Roman daraus zu machen. Aber es spukte in meinem Hinterkopf herum, und als ich einen weiteren Roman schreiben wollte - ich hatte schon ein paar geschrieben, die aber alle nicht gut waren -, da schien es mir ideal, um drumherum neue Charaktere zu schaffen, Dinge zu erforschen.
Der zugrundeliegende Fall beruht auf Tatsachen, aber die Charaktere sind fiktional?
Ja, alle Charaktere sind ausgedacht. Die Hauptfigur Katrina Marino ähnelt zum Teil Kitty Genovese: gleiches Alter, etwa die gleiche Körpergröße, gleicher Job. Aber man weiß nicht viel über eine Person, wenn sie nicht gerade prominent ist und Opfer eines Verbrechens wird.
Die anderen Personen sind fiktional, mit ein paar Ausnahmen. Ich habe Dialoge aus dem Polizeibericht genommen und sie den Figuren in den Mund gelegt. Ich habe also versucht, Parallelen herzustellen, ohne notwendigerweise zu eng dranzubleiben, so dass noch eine organisch wirkende Geschichte rauskommt.
Die Charaktere in Ihrem Buch, die alle Zeugen des Verbrechens werden, tun aus unterschiedlichen Gründen nichts. Wer trägt dafür die Verantwortung, der Einzelne, die Gesellschaft?
Ich weiß es nicht, um ehrlich zu sein. Als ich zum ersten Mal darüber las, da war der Autor schnell dabei zu sagen: Die Zeugen sind Idioten, ohne Moral, wie können die einfach zusehen … Aber ich denke, jeder kennt Momente, in denen er weiß, was er tun sollte, aber es ist einfach eine Last, es nervt, man tut es nicht. Es ist leicht, das aus der Ferne zu verurteilen. Natürlich hätten sie etwas tun sollen, aber dass sie nichts tun, ist auf eine Art auch verständlich. Man weiß selbst nie, wie man sich verhalten würde.
Der Autor: Ryan David Jahn, 32, wuchs in Arizona, Texas und Kalifornien auf. Mit 16 verließ er die Schule, um in einem Plattenladen zu arbeiten. Danach ging er zur Army, später schrieb er Drehbücher für Film und Fernsehen. Doch das war ihm zu anonym, er fühlte sich zu ersetzbar und zu abhängig von den Launen der Produzenten. Also schrieb er Romane. "Akt der Gewalt" ist sein erster, kürzlich veröffentlichter Roman, für den er mit dem "Debut Dagger Award" ausgezeichnet wurde. Auch sein aktuelles Buch "The Dispatcher" ist wieder eine psychologisierende Kriminalgeschichte.
Das Buch: Ryan David Jahn hat das literarische Statement zur Debatte über Zivilcourage geschrieben, oder besser, um den Mangel daran. In spannender, manchmal brutal realistischer Form baut er seinen Roman "Akt der Gewalt" auf ein wahres Ereignis auf: 1964 wurde die junge Kellnerin Kitty Genovese um vier Uhr früh vor ihrer Wohnung im Hof eines Apartmentkomplexes in den USA von einem Fremden angegriffen, niedergestochen und vergewaltigt. Sie starb. 38 Nachbarn sahen zu, keiner holte Hilfe. Der Fall ging in die Kriminalgeschichte ein und stand beispielhaft für den sogenannten Bystander-Effekt. Im Roman kommen einiger dieser Zeugen zu Wort, der Autor schildert ihre Gründe, ihre Nöte. Er zeigt, wie leicht es wäre, einzuschreiten - und wie schwer zugleich.
Die Personen im Buch, die sich verantwortungslos verhalten, wollen sich nicht vorwagen, kein Risiko übernehmen für jemand anderen, dem sie nicht nahestehen. Und es ist leichter, aus dem Fenster heraus nichts zu tun, nur die Vorhänge zu schließen, als wenn man sich auch auf der Straße unten befindet. Wenn einer von denen Kitty näher gekannt hätte, dann wäre er sofort rausgerannt und eingeschritten. Weil sie die Verantwortung gefühlt hätten. Aber wenn es nur jemand aus dem Wohnkomplex ist, dem Sie im Vorbeilaufen vielleicht mal zugenickt haben, dann fehlt dieses Verantwortungsgefühl.
Sind solche Umstände und Zusammenhänge Zufall, Schicksal?
Ich denke, in jeder Situation wie dieser gibt es diese Zufälle, die falsch laufen. Der wahre Fall dauerte 35 Minuten, da gab es auch Zufälle - und Kitty war ein zufälliges Opfer. Der Mörder damals ging aus dem Haus mit der Absicht, jemanden zu töten. Egal wen. Hätte er sich woanders jemanden ausgesucht, dann wäre er vielleicht aufgehalten worden.
In Wirklichkeit gibt es also diese Zufälle, aber nicht in dem Umfang, wie es im Roman der Fall ist. Der Mörder hat bereits zwei Teenagerinnen getötet in den vergangenen zwei Monaten. Er wurde wegen Einbruchs geschnappt und angeklagt, dabei kam dann erst heraus, dass er drei Frauen umgebracht hat. Das war zumindest ein Fall von Zufall mit gutem Ende. Er ist immer noch im Gefängnis.
Das Buch spielt im Amerika der 60er Jahre. Könnte so etwas heute wieder passieren?
Ja, auf jeden Fall. Ich denke, es ist Teil der menschlichen Natur, sich nicht überall einmischen und kein Risiko eingehen zu wollen, wenn man nicht muss. Und in Kew Gardens in Queens, New York, wo der Mord an Kitty Genovese geschah, passierte zehn Jahre später wieder ein ganz ähnlicher Fall. Da waren es nicht 38, sondern 10 oder 15 Zeugen, aber sie sahen alle wieder zu. Sogar in einer Nachbarschaft, wo die Menschen sich so sehr bewusst sein müssten darüber, was passieren kann, was Ignoranz auslösen kann, wiederholte sich die Geschichte.
In Deutschland gibt es immer wieder brutale Angriffe in U-Bahn-Stationen, die heftige Diskussionen um mangelnde Zivilcourage auslösen. Wie kann man Menschen zum Einschreiten ermutigen?
Solche Fälle gibt es in den USA auch. Und die Leute sehen zu, manche filmen es mit ihrem Handy und stellen es auf Youtube, ohne einzugreifen. Ich habe leider keine Lösungen. Obwohl ich dieses Buch geschrieben habe, muss ich mich selbst auch zwingen, etwas zu tun. Vor ein paar Wochen zum Beispiel wachte ich auf, weil jemand auf der Straße um Hilfe rief. Meine erste Reaktion war: Gott, verdammt! Erst dann bin ich aufgestanden und hab nachgesehen, was es war.
Aber der erste Impuls war: Ignorieren. Der Instinkt sagt da erst mal: Okay, sie hat aufgehört zu schreien, also ist alles wieder gut. Was natürlich genau der falsche Gedanke ist. Und zwar war es da nur eine betrunkene Frau, die aus Albernheit gerufen hat, aber das weiß man natürlich nie. Und man tut ja nicht nichts, weil es einem an Mitgefühl fehlt, sondern auch, weil man sich selbst nicht in Gefahr bringen will.
Es heißt oft, die Gesellschaft verroht, denken Sie, das stimmt?
Ich weiß es nicht, ich denke, die Gesellschaft ist immer ein Stück weit beschissen. Von Mensch zu Mensch sind wir normalerweise echt gut, auf persönlicher Ebene, nur wenn man die Gesellschaft als Ganzes betrachtet, dann gibt es diese Schreckliche, Böse.
Obwohl seit Jahrzehnten die Mordrate monumental gesunken ist, in mancher Hinsicht also denke ich, es wird besser. Früher gab es öffentliche Hinrichtungen. Ich denke nicht, dass Feigheit oder fehlende Empathie für Fremde etwas Neues sind - oder etwas, das schlimmer wird. Es ist leicht zu denken, dass es gerade so schlimm ist wie nie, aber das ist nicht unbedingt richtig.
Was fasziniert Sie an diesen Verbrechensgeschichten?
Es ist nicht das Verbrechen an sich. Ich mag es, wenn Menschen an ihre äußersten Grenzen gelangen, und in Kriminalgeschichten passiert das schnell. Das gilt für Horrorgeschichten vielleicht auch, aber die könnte ich nicht für wahr halten, also kann ich sie auch nicht schreiben. Und die Realität ist ohnehin erschreckender als jeder Vampir.
Leser*innenkommentare
spring
Gast
Stimme Lisa zu
@Student
"immer mal wieder ein Verrückter" ist ein pathologischer Fall. Aus gesellschaftlichem Frust, Misserfolg etc. resultierende Gewalt hingegen, ist etwas ganz anderes.
SisterS
Gast
ryan david jahn spricht von gewalt als faszinosum. was fasziniert macht sprachlos, handlungsunfähig oder lähmt zumindest aktionsbereitschaft. fasziniert sind wir von gewalt immer dann, wenn wir das opfer entpersonalisiert, also als objekt im rahmen eines grausigen schauspiels denken bzw. betrachten. in dem moment bauen wir eine mauer zwischen uns und dem schwer fassbaren. das kann eine form von selbstschutz bedeuten. es spricht aber auch einiges dafür, dass schlichtweg keine empathie, kein mitgefühl für das opfer aufgebracht werden kann. weil man selbst ja auch keine wertschätzung erfährt oder je erfahren hat.
meine these: wer sich selbst respektiert und sich seiner menschenwürde noch nicht gänzlich beraubt fühlt, wird vermutlich nicht zweimal darüber nachdenken, ob er eingreifen soll oder nicht, wenn er sieht: ein mensch braucht sofort hilfe.
@ lisa's ansatzt habe ich i.d.s. aufgefasst. allerdings gibt es neben geknechteten, stigmatisierten sozialleistungsempfängern bzw. gesellschaftl. ausgestoßenen, auch gewisse karrieretypen, die auf dem weg nach oben viel staub fressen, d. h. sich verbiegen, erniedrigen usw. lassen mussten. die haben auch oft selten noch sowas wie mitleid mit anderen. die gesellschaftlichen strukturen in kapitalisten systemen begünstigen insofern sicher die bereitschaft zu gewaltausbrüchen einzelner auf er einen, sowie zum gaffen bei gewalttätigen übergriffen in der öffentlichkeit auf der anderen seite. das phänomen des gaffens ist ja auch oft nach schweren verkehrsunfällen zu beobachten - selbst professionelle hilfskräfte werden dann noch oft bei ihrer arbeit behindert, weil schaulustige, fasziniert vom unglück anderer und von bildern wie aus einem actionfilm, den weg zum unfallort versperren.
alekto
Gast
@Lisa
"ber es bleibt das Allerwichtigste, dass man in der Gesellschaft den Boden dafür entzieht, das solche Zivilcourage überhaupt erforderlich wird. "
und wie soll das gehen, wenn jeder sich weiterhin nur um seinen anderen dreck kümmert?
Dr. rer. Nat. Harald Wenk
Gast
Nun, der Selbstschutz, die Angst, nicht in eine "Falle" zu tappen, wird ncoh verstärkt durch das monpolisztsuiche Expetetum in HUmans- udn Sozailberufen.
Nur Arzt, Polizist, Sozialarbeiter, Lehrer, Anwalt oder Richter, mindestens "Hausmeister" oder Sicherheitsdiesnt sind "befugt" oder "Zuständig" für Hnadlungen geegn den Willen von personen oder Eingriffe in die Handlungen unbekannter.
Das hat seine Positivität im Schutz vor Übergriffen von x-Belieggeben idn er Öffentlcihkeit, aber die kehrsaeite, dass deiser Schutz überhupt nciht gesichert sit, da bei Übergiffen dann niemand einen verteidigt.
Der GGrundgedanke ist wohl, das die Überfallenden sowiseo erschwischt werden und Köperverletzungen aller Art so hoch bestraft werden, direkt und mit nachfolgender Stigmatisierung als "Vorbestrafter", das diese Delegation in der Situation eine weitere "institutionelle" Stütze findet.
Schliesslich gibt es noch den Rat von professioneller Seite, "Nicht immer unbedingt den Helden spielen zu wollen".
Das mag verscheiden Gründe haben - wer will hinter schon herausbekommen, wer "angefangen " hat, z.B.,.
Mag sein, dass der Rat mittlerweile zurückgezogen worden ist, durchgedrungen ist es nicht.
Aber die Schwere der "Staats"- und "Expertengläubigkeit", Reflex des technisch wissenschaftlichen Fortschritts im 30. Gang,
inklusive Informationsexplosion, immer "auf dem fast neuesten Stand" desselben, führt zu ständiger "bewusster Regressionsforderung", Brutalisierung, im Alltag, aus "Verhaltensunsicherheit".
Das veralltäglicht und stabilisiert sich zu einer gewissen "Rustikalität", die sich sogar gegen Nachfragen "abdichtet".
Dieser Kulturmangel wird leider leider durch die obrigleitsstaatlichen Allüren, die mit dem erwähnten Expertentum "durchgesetzt" werden und einhergehen,
viel perfider aktiv gefördert, als man so glaubt.
Auch im "informellen" Sektor.
Das macht der Experte, du hast doch keine Ahnung, und: "Stell dich mal nicht so an..., bzw. der, die soll sich mal nicht so anstellen...
die Experten, oft normale Angestellte, im Sozialdispositiv nutzen das reichlich, reichlich aus...
Allerdings, der "moralische Knacks" nach so einem Danebenstehen ohne zu helfen, das ist schon eine hartes Ringen, "beim ersten Mal", für empfindsamere Teil jeder Seele.
Man kann auch eingreifen, so ist das nicht.Und, "moralischer Knacks" eingedenk, "unterm Strich" kommt es "günstiger"...
andreas
Gast
Ein sehr guter Artikel
Zivicourage ist aber auch aus einem anderen Grund Mangelware
Der/die potenziell "Eingreifende" wird sich meistens (wenn auch fuer sehr kurze Zeit) vorher ueberlegen, in welche (eventuelle) Schwierigkeiten er/sie sich selbst bringen koennte ....
Dies ist nicht nur bezogen auf die Gefahr , selbst in (koerperliche) Mitleidenschaft gezogen zu werden, sondern auch welche evtl. Schwierigkeiten von offizieller Seite auf ihn/sie zukommen koennten ...
Es gibt in England z.Bsp. den sogennanten Einsatz von "reasonable Force" , also wenn man so will "den Umstaenden entsprechenden Einsatz von Gewalt" ....
Ob diese dann "den Umstaenden entsprochen" hat, ist Auslegungssache der Exekutive und dies vorher und im Bruchteil einer Sekunde in Betracht zu ziehen , ist gelinde gesagt aeusserst schwierig
Also fehlende Zivicourage kann vielerlei Ursachen haben, nicht nur (natuerliche ?) Angst , einzugreifen
Wenn der/die Eingreifende gesetzlich nicht abgesichert ist, wird er/sie es sich auch aus diesem Aspekt zweimal ueberlegen, ob er/sie eingreift
Student
Gast
@Lisa: Sicherlich muss an der Wurzel des Problems gearbeitet werden und nicht nur gegen die Symptome vorgegangen werden.
Trotzdem hat sich über die Jahre gezeigt, dass es immer und überall Gewalttäter gab und geben wird.
Staat und Bürger können ihr bestes dagegen tun, trotzdem wird immer mal wieder ein Verrückter durchdrehen. Und genau da wird Zivilcourage zwingend notwendig, ganz besonders in der städtischen, anonymen Masse.
Lisa
Gast
Nicht mein Artikel! Zivilcourage ist sicher wichtig, das Einstehen für andere ebenso. Aber es bleibt das Allerwichtigste, dass man in der Gesellschaft den Boden dafür entzieht, das solche Zivilcourage überhaupt erforderlich wird. Übergriffe durch Jugendliche sind nur das Eine, Gewalt ist überall selbst in den Familien gegen Kinder mit steigender Tendenz. Irgendwann hatten wir mal Ideale nach einer Gesellschaft in der alle eine Chance haben, ich sehe nur noch eine Gesellschaft in der eine dekadente Mittelschicht auf ihre Pründe achtet und immer mehr Menschen in die Unterschicht - Hartz 4 - Knast abwandern. Wenn diese Menschen dann fehlen, erhebt sich die Mittelschicht mit der Keule und schlägt zu. Das löst das Gewaltproblem nicht, auch wenn man es noch so oft propagiert. Wer im Hartz 4 - Knast lebt und keine Zukunft hat, der ist nicht mehr mit vernünftigen Argumenten erreichbar.