Auswilderung von Waldrappen: Der Flug ins alte Leben
Waldrappe lebten nur noch in Zoos und in einer letzten Kolonie in Marokko. Ein Team von Biologen hat jetzt erfolgreich elf Vögel wieder ausgewildert.
Der Waldrapp (Geronticus eremita) gehört zur Gattung der Ibisse. Der storchenverwandte Schreitvogel ist etwa 75 Zentimeter groß. Ausgewachsene Waldrappe werden bis zu 1,4 Kilo schwer, wirken auf den ersten Blick plump und naiv, sind jedoch hervorragende Flieger. Der auch Schopfibis genannte Vogel war bis ins 17. Jahrhundert in Mitteleuropa, Nordafrika und dem Nahen Osten beheimatet. Waldrappe schlafen und brüten in Kolonien von 30 bis über 400 Tieren auf Klippen und in Felsnischen. Die bekannten großen europäischen Kolonien am Schlossberg in Graz und am Kapuzinerberg in Salzburg erloschen im 17. Jahrhundert. An der marokkanischen Atlantikküste konnte sich eine letzte Kolonie von 350 wildlebenden Waldrappen halten, in der Türkei und Syrien gibt es kleinere Vorkommen. In Zoos leben knapp 2.000 Exemplare des hoch sozialen Vogels, der in großen Teilen seines Verbreitungsgebiets verehrt wurde. Türkischen Muslimen gelten Waldrappe als Wegweiser nach Mekka, da sie im Herbst in Richtung des Heiligtums aufbrachen.
Es war ein Propeller, der Siris Leben jäh ein Ende setzte. Zu zutraulich war der schwarze Jungvogel wohl ganz nach Wesensart der Waldrappe dem Ultraleichtflieger gefolgt, der den Schwarm gen Süden lotsen soll. Zu nah war Siri zum Fluggerät aufgerückt, war in den Propellersog geraten und schließlich mit zerschmettertem Schädel in die Tiefe getaumelt.
"Ein echter Schock war das", sagt Markus Unsöld. Noch immer schüttelt es den 36-Jährigen beim Gedanken an den plötzlichen Tod seines Schützlings im bayerisch-österreichischen Grenzland. Unsöld gehört zu einem internationalen Team von Biologen, das den seit Jahrhunderten in Europa ausgerotteten Zugvogel wieder im Alpenraum heimisch machen möchte. (www.waldrappteam.at).
Da Zootiere die Flugroute aber nicht wie üblich von ihren Muttertieren lernen können, haben Unsöld und seine Kollegen den Waldrappe mit Fluggeräten den 1.400 Kilometer langen Weg in die Toskana gewiesen. Mit dem Flug ins Vogelschutzgebiet von Laguna di Orbetello am Montag ist für elf Waldrappe die sogenannte Herbstmigration zur großen Freude der Wissenschaftler geglückt, eine wichtige Etappe auf der Rückkehr des Waldrapp aus der Arche Noah gelungen. Auch Markus Unsöld strahlt - und doch wandern seine Gedanken zurück zu Siri, zurück zum Beginn einer Reise mit vielen Unbekannten, die sein Team und die Tiere viel Kraft kosten soll.
Mitte August, nach zwei Etappen mit knapp 100 Kilometern Flugstrecke, wirken die Waldrappe noch recht fit. Freundlich schnarrend haben sich die Ibisvögel auf die oberste Stange ihrer Voliere auf dem Flugplatz nahe dem oberösterreichischen Gmunden zurückgezogen, Beobachterposition. Luca äugt neugierig herüber, was vielleicht dem Neuankömmling, möglicherweise aber eher der Schachtel mit Würmern in den Händen Unsölds gilt. Gern hüpft ihm der Jungvogel auch auf die Schulter und bohrt mit dem langen Schnabel spielerisch im Ohr des Ziehvaters. Kein Zweifel, Luca sitzt der Schalk im Nacken, nicht nur in Form des bizarren Schopfs am Hinterkopf. Der clowneske Charakter der Waldrappe scheint schnell verschwunden, wenn die Vögel in ruhigeren Momenten erhaben in die Bergkulisse ragen: Luca und Rico, Hanni und Gonzo wirken dann beinahe würdevoll. Markante Hauptfiguren, die das Lagerleben um sie herum zum Beiwerk degradieren.
Als "Sinnbild der Seele" verehrten die alten Ägypter den Waldrapp, Schmuckstücke und Hieroglyphen mit seinem Motiv wurden gefunden. Bis zum Beginn der Neuzeit faszinierte der eigentümliche Vogel auch zahlreiche europäische Künstler. In Venedig soll der im Mittelmeerraum verbreitete Ibis als Vorbild für Karnevalsmasken gedient haben. Waldrappe finden sich in mittelalterlichen Kirchenbildern von Alpentälern genauso wie in Klosterchroniken, die auf eine stabile Population verweisen.
Auch der seltsame Name des Vogels stammt wohl aus dieser Zeit. "Waldrab" nennt ihn der Schweizer Conrad Gesner in seinem 1669 erschienenen "Vollkommenen Vogelbuch". Ein mittelalterliches Klosterfresko deutet auf das wohl letztliche Verhängnis des Waldrappen hin: Dort ist er als Fastenspeise abgebildet. Die geselligen Tiere galten bei Adel und Klerus als beliebte Mahlzeit. Wahrscheinlich machten Hungersnöte im Zuge des Dreißigjährigen Kriegs der europäischen Waldrapp-Population den Garaus.
Unsöld und Ziehmutterkollegin Christina Brendler haben die drei Tage alten Küken aus den Zoos in Zürich, Prag und Wien sowie der Konrad-Lorenz-Forschungsstelle Grünau geholt. "Wir haben ja fast mehr Kontakt mit ihnen als mit einem Kind", sagt Unsöld und schildert mit leuchtenden Augen, wie sie die rosig glänzenden Jungtiere zunächst mit Babylöffeln aufzogen. Für Zieheltern-Romantik bleibt einem Waldrapp-Papa indes keine Zeit, für genug Schlaf im Campingbus auch kaum: Von sieben Uhr morgens bis neun Uhr abends stündlich hungrige Schnäbel stopfen, begleitet vom Gestank der gekochten, zerkleinerten Ratten und Würmer auf nüchternen Magen. Dazu die Vögel kraulen und putzen - in Unmengen an Kot, von denen Flecken auf Unsölds Jeans und seinen Gummistiefeln künden. Der enge Kontakt macht die Jungtiere abhängig von Unsöld und Brendler - ein unsichtbares Band, an dem die Waldrappen in die Lüfte geführt werden sollen.
Als die Tiere flügge werden, zieht das Team Mitte Juni um nach Burghausen, um die Waldrappe für den Flug zu trainieren. Lange zwei Monate sind es da noch bis zum Start: mit Tagen, an denen Luca, Rico und Hanni das unsichtbare Band zu ihren Zieheltern schnell vergessen. Und mit Würmern und Schnecken aus der Biowiese, die wesentlich spannender sind als der unauffällig in Sichtweite geparkte Ultraleichtflieger: "Junge Waldrappe sind extrem ablenkbar", sagt Unsöld: Schattenseiten einer Neugier, die die Waldrappe schnell lernen lässt. Dazu kommt die Scheu vor dem dröhnenden Motor des Fluggeräts. "Am Anfang haben sies einfach nicht kapiert. Oft ist nur ein Vogel mitgeflogen." Erfolgserlebnissen, den ersten, rund einen Kilometer langen Platzrunden, folgt immer wieder Ernüchterung. Toki ist zu schwach auf der Brust und bekommt Flugverbot. Tagelang muss das Team schließlich um den Start bangen. Bei Regen im Zelt zusammengepfercht wünscht sich Unsöld einmal mehr seinen regulären Job als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Zoologischen Staatssammlung München zurück. Und ist dann doch überwältigt, als es endlich losgeht, der Ultraleichtflieger aus dem Bodennebel in die Morgensonne aufsteigt. "Die Vögel waren so nah, ich konnte sie im Flug berühren und streicheln."
Es ist Projektleiter Johannes Fritz, der Unsöld aus seinen versonnenen Ausführungen reißt. Der schlaksige Tiroler streift durch die auf der Flughafenwiese locker verstreuten Zelte und VW-Busse, die auf den ersten Blick Ferienlagerstimmung verbreiten - wären da nicht die studentischen Helfer und wissenschaftlichen Mitarbeiter, die über Kartenmaterial und Notebooks brüten und Flugdaten auswerten. Der Vogelzug gen Süden ist auch ein wissenschaftliches Pionierprojekt. Der kontinuierliche Kontakt zu den Waldrappen erlaubt Forschern erstmals, den Energieverbrauch im Flug genau zu messen und so mehr über die Leistungsfähigkeit von Zugvögeln zu erfahren. Die anstehende Etappe am kommenden Morgen ist besonders spannend: Das erste Mal sollen die jungen Waldrappe eine Langstrecke bewältigen.
Wie Indianer zum Kriegsrat schart sich das Team um Fritz. Wenn der promovierte Verhaltensforscher spricht, gleicht er eher einem Fußballtrainer, der seine Mannschaft in der Halbzeitpause anstachelt, um einen Rückstand aufzuholen. Spät habe das Flugtraining begonnen, da die Waldrappe verhältnismäßig jung waren, dann die wetterbedingte Verzögerung beim Start. "Aber die Vögel folgen unglaublich gut. Die Gruppe ist der Wahnsinn."
Es ist der Optimismus dessen, der um die Risiken des Pionierprojekts weiß, der sie hautnah miterlebt hat. Fritz ist als Erster mit Waldrappen geflogen, 2003 schaffte er es über die Alpen, doch das Fluggerät versagte bei Venedig. Im folgenden Jahr erreichte der menschengeleitete Vogelzug zwar die Toskana, eine Notlandung im Maisfeld komplizierte jedoch die Reise. Und immer wieder kehrten erschöpfte Vögel zum Startpunkt zurück, statt den Zieheltern hinterherzufliegen. Nun meldet Pilot Walter Holzmüller technische Probleme. Ein böses Omen für den ersten Langstreckenflug?
Die Vorbereitungen am nächsten Morgen laufen zunächst reibungslos. Die jungen Frauen und Männer des Teams scharen sich um die Voliere, wenige Minuten vor dem Abflug bleiben nur noch die beiden Zieheltern bei den Waldrappen zurück, in Sichtweite die zwei offenen Metallkabinen der Fluggeräte. Alle anderen Teammitarbeiter haben sich hinter Zelte und Fahrzeuge gekauert, geredet wird allerhöchstens im Flüsterton. Plötzlich bäumt sich der Schirm des ersten Ultraleichtfliegers auf, in dem ein Beobachtungsteam aus Fritz und einem Studenten davonschweben. Nun ist die Zeit der Waldrappe gekommen. Und wirklich: Noch etwas plump watscheln die ersten über die Startrampe aus der Voliere, recken den Schnabel und gleiten mit ein paar kräftigen Flügelschlägen in die Lüfte. Aber halt: Das zweite Fluggerät röhrt, doch die Technik streikt, der Gleiter mit den Zieheltern bleibt am Boden. Die Vögel sind längst in der Luft und versuchen nun, zum falschen Flieger aufzuschließen. Bange Minuten mit aufgeregten Funksprüchen folgen, dann kehrt Fritz zurück. Endlich gleiten beide Fluggeräte in den Himmel über Gmunden. Und endlich hängen sich auch die Vögel in eleganter V-Formation an die Zieheltern. 130 Kilometer werden die Waldrappe an diesem Tag zurücklegen, weitere Langstreckenflüge folgen. Die weiteste Etappe schafft das Team bereits in Norditalien, 158 Kilometer von Camposile nach Lugo, Waldrapp-Rekord.
Der endgültige Erfolg der Herbstmigration wird sich erst in drei Jahren erweisen. Dann werden die geschlechtsreifen Waldrappe hoffentlich auf den Wegen zurückfinden, die sie sich jetzt unter Fritz Anleitung eingeprägt haben. Erste Erfolge gibt es bereits zu vermelden: Im Frühling 2007 kehrten fünf Vögel nach Oberösterreich zurück, wo Fritz mit ihnen 2004 gestartet war. Ein Paar brütete dort und zog drei Junge auf, die Gruppe machte sich im Herbst von allein auf gen Süden. Ein Fernziel sind völlig wild lebende Waldrappe, wie sie auf mittelalterlichen Gemälden von Burghausen abgebildet sind. Nach hunderten Jahren könnte der Ibisvogel so in der Salzachstadt wieder heimisch werden, sagt Fritz, der auch kommendes Jahr wieder von Burghausen aus starten will. Die Rückkehr aus der Arche Noah hat gerade erst begonnen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
Prognose zu Zielen für Verkehrswende
2030 werden vier Millionen E-Autos fehlen
Fußball-WM 2034
FIFA für Saudi-Arabien
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
MLPD droht Nichtzulassung zur Wahl
Scheitert der „echte Sozialismus“ am Parteiengesetz?