Ausweisung von Nazischerge Demjanjuk: Der Handlanger des Todes
Iwan Demjanjuk war an der Vergasung von 29.000 Juden beteiligt. Die Staatsanwaltschaft München hat Haftbefehl gegen ihn erlassen, aber Demjanjuk will in den USA bleiben.
Der Monatslohn betrug 45 Reichsmark, ausgezahlt in Polnischen Zloty. Verpflegung, medizinische Betreuung und Kleidung gab es umsonst. Die Unterkunft in Holzbaracken war bescheiden. Geringe Freizeitmöglichkeiten, Schnaps und Zigaretten bot das fünf Kilometer entfernte Dorf. Man trug abgelegte erdbraune Uniformen der belgischen Armee oder schwarz gefärbte polnische Armeekleidung. Der Arbeitsvertrag lautete bis Kriegsende. Die Bewaffnung: alte sowjetische Karabiner und eine Peitsche. Die Arbeitszeiten: unregelmäßig. Aufstiegsmöglichkeiten: vorhanden. Die Tätigkeit: die fabrikmäßige Ermordung von Zehntausenden Menschen.
Kein seltener Job. Tausende arbeiteten so. Sie taten ihren Dienst in Lagern, sie bewachten Feldarbeiter, wirkten unterstützend bis bestialisch mordend bei der Räumung von Ghettos. Sie waren keine Privilegierten, aber auch keine Gefangenen. "Hiwis", Hilfswillige nannten die Deutschen sie abschätzig und "Fremdvölkische". Sie hatten in deutschen Gefangenenlagern dahinvegetiert, den Tod vor Augen, bis sie das Angebot zur Ausbildung bekamen. Manche von ihnen taten ihren Dienst überaus korrekt und wurden befördert. Andere schlugen über die Stränge.
Der Wachmann im Vernichtungslager Sobibor, Iwan Demjanjuk, erhielt 25 Stockschläge, weil er sich unerlaubt von seinem Arbeitsplatz entfernt hatte. Er ist niemals befördert worden. Er ist aber auch, anders als viele seiner Kollegen, nicht desertiert, hat den Deutschen bis zum Ende brav gedient. Jetzt, mehr als sechzig Jahre nach dem Holocaust, soll Demjanjuk in München vor Gericht gestellt werden - wegen Beihilfe zum Mord in 29.000 Fällen. Der Haftbefehl ist erlassen und die Staatsanwaltschaft München wird schon bald Anklage gegen ihn erheben.
Am 27. März 1943 beginnt für Iwan Demjanjuk sein neuer Job in Sobibor, folgt man den Daten seines Dienstausweises. Sobibor ist ein abgelegenes polnisches Dorf, umgeben von Sumpfgebiet, nicht allzu weit von Chelm entfernt. Aber es gibt dort eine eingleisige Eisenbahnstrecke und Sobibor hat einen eigenen Bahnhof. Schon im Herbst 1941 sind erstmals Deutsche hierher gekommen, um die Umgebung nahe eines Wäldchens zu begutachten. Im März 1942 beginnt der Bau des Lagers.
Sobibor ist kein Konzentrationslager. Es dient ausschließlich der Vernichtung von Menschen. In drei, später sechs Kammern von viermal vier Meter Größe werden Juden hineingepfercht. Dann schließt sich die Tür. Von einem 200-PS-Motor werden die Abgase in die Räume geleitet. Die Menschen ersticken. Ihre Leichname werden von anderen jüdischen Gefangenen aus einer zweiten Tür gebracht und verbrannt.
Juden sind es, die die furchtbarsten Arbeiten übernehmen müssen: das Säubern der leeren Güterwaggons, das Sortieren der Kleider, das Verpacken der Haare, die den Frauen geschoren werden, bevor man sie ins Gas treibt. Auf der anderen Seite stehen die SS-Männer. Sie sind sorgfältig ausgewählt, meist frühere Mitarbeiter von "T4", der "Euthanasie"-Aktion, mit der die Nazis seit Kriegsausbruch Zehntausende "lebensunwerte" Deutsche ermordet haben. Verdiente SS-Männer also, mit dem Tod vertraut, nicht so leicht unterzukriegen. Männer wie Karl Frenzel, der von Beruf Zimmermann und seit 1930 NSDAP-Mitglied, Leichenverbrenner in den "Euthanasie"-Anstalten Grafeneck, Hadamar und Bernburg ist. Aber es sind alles in allem nicht mehr als 25 Mann. Die Nazis wollen so wenig Personal wie möglich, um die Geheimhaltung des Lagers sicherzustellen, aber auch, weil deutsche Männer dringend an der Front gebraucht werden.
Der 1920 geborene John (Iwan) Demjanjuk lebt seit 1952 mit seiner Frau in den USA. 1986 lieferten die USA ihn an Israel aus, wo er 1988 vor Gericht stand und wegen seiner angeblichen Tätigkeit an der Gaskammer von Treblinka zum Tode verurteilt wurde. Der Oberste Gerichtshof Israels hob das Urteil 1993 auf, weil neue Indizien den Zeugenaussagen von Überlebenden widersprachen. Demjanjuk kehrte in die USA zurück, aber seine US-Staatsbürgerschaft wurde ihm aberkannt. Die Zentrale Stelle zur Ermittlung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg sorgte für weitere Ermittlungen, die zum Haftbefehl führten. Ihm wird Beihilfe zum Mord in 29.000 Fällen vorgeworfen. Demjanjuk selbst bestreitet sämtliche Vorwürfe. Bereits am Montag sollte er ausgewiesen werden, aber sein Anwalt verhinderte dies mit einem Eilantrag. Der Ausweisungsstopp wurde zwar wieder aufgehoben, der Anwalt kündigte für Dienstagabend aber erneuten Einspruch an.
Deshalb brauchen sie "hilfswillige" Männer wie Iwan Demjanjuk. Heinrich Himmler, der Reichsführer-SS, hat angewiesen, unter den sowjetischen Kriegsgefangenen "Personen, die besonders vertrauenswürdig erscheinen und daher für den Einsatz zum Wiederaufbau der besetzten Gebiete verwendungsfähig sind", auszuwählen. Doch es geht nicht um den Wiederaufbau, sondern um Hilfspolizisten. Seit September 1941 werden sie im deutsch besetzten Trawniki ausgebildet. Zu diesem Zeitpunkt hat die Nazi-Führung die physische Vernichtung der Juden in ihrem Machtbereich längst beschlossen. Im Generalgouvernement, wie das besetzte Polen genannt wird, beginnt die Planung für die "Aktion Reinhard", mit der im folgenden Jahr die Juden Polens in die Lager gebracht werden.
Der Ukrainer Iwan Demjanjuk ist beim Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 21 Jahre alt, von Beruf Traktorist und Wehrpflichtiger in der Roten Armee. Im Frühjahr 1942 gerät er nach eigener Aussage in deutsche Gefangenschaft und kommt in ein Lager bei Chelm, heute in Ostpolen. Die Zustände dort sind furchtbar. Es gibt zu wenige Baracken, zu wenig Essen. Die Gefangenen graben sich Erdlöcher. Die Behandlung der sowjetischen Kriegsgefangenen ist gewollt. Sie sollen sterben.
Wer sich aber als "Hiwi" meldet, hat eine Überlebenschance. "In vielen Fällen lautete die Alternative: verhungern oder sich melden", schreibt der Historiker Jules Schelvis über die Lage in den Gefangenenlagern. Iwan Demjanjuk meldet sich. Nach einer flüchtigen Musterung kommt er nach Trawniki - zum Drill. Er muss eine Dienstverpflichtung unterschreiben, nach der er nun "für Kriegsdauer" den Deutschen zur Verfügung steht und die "bestehenden Dienst- und Disziplinarvorschriften" einhalten wird.
Seinen ersten Einsatz hat Demjanjuk bei der Bewachung von jüdischen Zwangsarbeitern in der Landwirtschaft. Kurz darauf ist er im KZ Majdanek tätig, doch welche Aufgaben er dort genau hat, ist nicht bekannt.
Zu Beginn des Jahres 1942 sind die meisten polnischen Juden in Ghettos eingesperrt. Zehntausende leben dort zusammengepfercht, mit winzigen Essensrationen und zur Arbeit gezwungen. Viele verhungern oder sterben an den zahlreichen Seuchen. Aber die meisten leben, noch. Bis 1943 werden mehr als 1,5 Millionen ermordet. Dazwischen liegt die "Aktion Reinhard": die Ghettos werden geräumt, die Menschen in Viehwaggons geworfen oder gleich erschossen. Die Überlebenden werden in drei Vernichtungslager abtransportiert: Treblinka, Belzec und Sobibor.
Wenn die Züge in Sobibor ankommen und die mit Stacheldraht gesicherten Türen der Waggons sich öffnen, sehen die Menschen zuerst ein Schild: "Umsiedlungslager". Ein SS-Mann hält eine Ansprache: dies hier sei nur ein Übergangslager, man möge bitte zum Duschen gehen. Einige Juden werden ausgewählt, die fortan als Sklaven an der Ermordung ihrer Glaubensgenossen mitwirken müssen. Die anderen müssen sich ausziehen und die "Hilfswilligen" aus Trawniki treiben sie in die Gaskammern. Einer der Ukrainer namens Businnij berichtet aus Sobibor: "Wenn Juden ein Vergehen begingen, erschossen die Offiziere sie selbst oder gaben so einen Befehl an uns und dann wurden sie von uns erschossen. Auch die Abgezehrten, Kranken und Schwachen wurden erschossen. Die Lagerleitung gab so einen Befehl. Einen besonderen Befehl für jeden Transport gab es nicht. Die Vernichtung solcher Häftlinge durch Erschießen war ein gewöhnlicher Vorgang."
Jules Schelvis, der selber ein Überlebender von Sobibor ist, schreibt: "Die Ukrainer waren im Allgemeinen übereifrige und fanatische Bewacher. Sie machten von ihren Peitschen und Gewehrkolben Gebrauch, ohne weitere Befehle abzuwarten, um so die nackten Juden vom Entkleidungsplatz in die Gaskammern zu jagen. In den Augen der Arbeitshäftlinge waren sie gefährlicher als die SS. So kaltblütig sie gegenüber den Gefangenen auftraten, so unberechenbar erschienen sie in den Augen der SS. Mit Geld und Juwelen konnte manch einer bestochen werden. Sie tranken reichlich Alkohol."
Ein Zeuge, ebenfalls früherer Trawniki-Wachmann, berichtet später in der Sowjetunion, Demjanjuk habe die Juden zu den Gaskammern getrieben.
Vermutlich im September 1943 wird Iwan Demjanjuk aus Sobibor abkommandiert. Einen Monat später, am 14. Oktober, wagen die "Arbeitsjuden" den Aufstand. Dabei werden elf SS-Männer und mehrere Trawnikis getötet, fast 300 Häftlinge können flüchten. Die meisten von ihn werden später gefasst und ermordet, nur etwa 50 erleben das Kriegsende. Das Lager wird nach dem Aufstand aufgelöst, die Spuren beseitigt und zur Tarnung ein Bauernhof erbaut.
Die Opferzahl 29.000, wegen der Iwan Demjanjuk in München angeklagt werden soll, ist fiktiv. Sie ergibt sich aus den Namenslisten aus dem niederländischen Lager Westerbork, die dort von den Nazis geführt wurden. Doch es kamen auch Züge aus vielen anderen Orten in Sobibor an. Dort wurden keine Namen mehr notiert, und die Unterlagen der Nazis über Zahl der Züge und Menschen haben diese vor Kriegsende verbrannt. Auch über die Gesamtzahl der Morde in Sobibor in den Jahren 1942 und 1943 existieren nur Schätzungen. Der Historiker Wolfgang Scheffler geht von einer Mindestzahl von 151.500 aus, bei einem "Dunkelfeld" von gut 100.000.
Vom SS-Personal aus Sobibor wurden 1966 elf Männer in der Bundesrepublik angeklagt. Einer beging Selbstmord. Einer wurde zu "lebenslänglich" verurteilt. Fünf erhielten Freiheitsstrafen zwischen drei und acht Jahren. Vier wurden freigesprochen. Der Kommandant Franz Stangl bekam 1970 eine lebenslange Haftstrafe. Von den Trawniki-Wachmännern ist bisher kein einziger in Deutschland belangt worden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Entlassene grüne Ministerin Nonnemacher
„Die Eskalation zeichnete sich ab“
Sicherheitsleck in der JVA Burg
Sensibler Lageplan kursierte unter Gefangenen