Ausstellung im Sprengel-Museum: Schock-Skulptur und Schoko-Masse
In Hannover sind jetzt Arbeiten des politisch höchst ambitionierten Künstlers Siegfried Neuenhausen zu sehen. Beim Rundgang zeigt sich: Nicht alles war früher besser, aber doch so manches.
HANNOVER taz | "Die Bürger von B.": So heißt eine Gruppe lebensgroßer Figuren auf dem gepflasterten Museumsplatz im Sprengelmuseum Hannover. Die Arbeit aus dem Jahr 1967 bildet das Zentrum der kleinen Schau früher Werke des hannoverschen Künstlers Siegfried Neuenhausen: Neun kahlköpfige anonyme Männer, alle in ähnliche Mäntel gewandet, alle die Hände auf dem Rücken verschränkt, schauen merkwürdig teilnahmslos in die Runde.
Künstler Neuenhausen sieht die neun als Repräsentanten einer nicht ungefährlichen gesellschaftlichen Situation, die sich dann ja in den 1968er-Studentenrevolten entlud: Irgendwo zwischen der biederen Selbstgefälligkeit nach dem überwundenen Zweiten Weltkrieg, der mentalen Stagnation einer politischen Kontinuität und der individuellen Verdrängung kollektiver Schuld nähern sich die armseligen Protagonisten den gängigen Clichés von Polizeispitzeln oder anderen tumben Ordnungsfetischisten an. Das "B." steht übrigens für Braunschweig: An der dortigen Kunsthochschule übernahm Neuenhausen mit gerade mal 33 Jahren eine Professur, und in dessen provinzieller Enge erfuhr er wohl ganz hautnah diesen Kulturschock.
Damit ist auch schon der politische Künstler Siegfried Neuenhausen dingfest gemacht. Der wird nun 80, und zusammen mit dem Kunstverein Hannover hat das Sprengelmuseum - nach der großen Timm Ulrichs-Retrospektive zu dessen 70. Geburtstag - das Konzept einer Doppelschau zu einem Hannoveraner, gar niedersächsischen Granden neu aufgelegt.
Der Teil im Sprengelmuseum ist präzise kuratiert, künstlerisch eindringlich und räumlich adäquat präsentiert. Neben der Bürgergruppe berührt besonders das "Denkmal für João Borges de Souza": Schockierend naturalistisch, erneut lebensgroß, ist der zu Tode gefolterte brasilianische Student und Regimekritiker auf einen Stuhl gefesselt dargestellt, während der gegenüberstehende seines Peinigers leer ist. Schmerz, Tod, ungeahndete institutionelle Gewalt werden zur direkten appellativen Konfrontation des Betrachters eingesetzt.
Mit den künstlerischen Mitteln eines kritischen Realismus reflektierte Siegfried Neuenhausen um 1970 die drängenden Themen der Zeit, sein Wagnis einer unmittelbaren politischen Parteinahme beeindruckt auch noch im Rückblick. Seine aktuellen Arbeiten, die jetzt im Kunstverein zu sehen sind, wirken daran gemessen recht blutleer: 4.500 Miniaturfiguren, groß wie Schokoladenweihnachtsmänner, jedoch aus Fangolehm, was das Setting mit einer intensiv organischen Duftnote anreichert, bevölkern in unterschiedlichen Aufstellungen das Treppenpodest und vier Säle.
Eine vollbusige, aufblickende Frauenfigur und eine männliche Gestalt, mit Hut und gesenktem Haupt, deklinieren in Variationen Siegfried Kracauers Topos vom "Ornament der Masse": Sie werden in der strengen Formation einer Terracotta-Armee, im Gänsemarsch auf kleinen Rampen, von der Fensterbrüstung drängend in einen Saal einquellend oder in einem chaotischen, auch physischen Auflösungsprozess arrangiert.
Die beabsichtigte gesellschaftskritische Aussage erschließt sich aber nur bedingt. Sicher - auch unser beschleunigtes kapitalistisches Weltsystem baut nach wie vor auf willfährige Massen. Aber lässt sich der gnadenlose Marktradikalismus heutiger, sich selbst ausbeutender Ich-AGs noch mit dem Stereotyp des entpersönlichten Fabrikarbeiters und der nach Versorgung suchenden (Haus-)Frau erfassen? Führt nicht vielmehr die permanent verlangte persönliche Neuerfindung zu einer ganz anderen Art geradezu überindividualisierter Anonymität und Vereinsamung?
Plastisch künstlerische Metaphern für unsere aktuellen politischen Themen zu liefern, die an die Kraft seiner frühen Arbeiten anschließen, scheint Siegfried Neuenhausen dann wohl nicht mehr so recht zu gelingen. Aber es gibt auch im Kunstverein eine Entdeckung: Neuenhausens Gouachen und Zeichnungen, vor allem aber seine Zeichenbücher: Die nämlich rechtfertigten den Ausstellungstitel "Kleine Welten", besonders die zehn digitalisierten und animiert durchgeblätterten Exemplare.
Darin verarbeitet Siegfried Neuenhausen unermüdlich alles, was sich ihm tagtäglich an Eindrücken stellt. Eine Reise mit seinem Professorenkollegen Malte Sartorius anno 1999 nach China wird inklusive eingeklebtem und übermaltem Stadtplan Pekings aufgezeichnet, es gibt illustrierte Wortspiele, Collagen, englische Texte, mit Aquarellen überlagert, und sogar ein wässrig überfangenes Foto von Hannover-96-Keeper Robert Enke mit dem Handke-Plagiat "Die Angst des Torwarts vor der 2" auf der Seite daneben. Dieser Kosmos Neuenhausens ist frisch, sehr präsent und von elementarer künstlerischer Vitalität.
"Kleine Welten": bis 14. August, Kunstverein Hannover.
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