: Aussiedler: Leben als Übergangslösung
■ „Hibsches Deutschland“: Zuwanderer aus Polen, Rumänien, der DDR und der Sowjetunion finden in Bremen „jederzeit ein Dach über dem Kopf“ und - Stacheldraht um den Spielplatz / Sektempfang für Bürgermeister Scherf, Reste-Essen für die Bewohner
Das Schild direkt am Eingangstor ist schamhaft schlampig übermalt: „Unbefugten ist das Betreten des Grundstücks nicht gestattet. Jeglicher Warenhandel ist im Lager untersagt“. Irgendjemand muß irgendwann die Illusion gehabt haben, den Kasernen-Charakter der mit Stacheldraht umzäunten Doppelhausbaracken übertünchen zu können, wenn er die beiden Worte „im Lager“ mit weißer Farbe übermalt. Für den weiteren Einsatz von Farbe sah seit dem Ende der 40er Jahre offensichtlich niemand Bedarf.
Bremen Lesum, Hohlhorster Weg. Aussiedlerlager. Fünf schmuddlig gelbe Häuserzeilen, dazwischen ein bißchen Rasen, Wäscheleinen, träge Kinder, die
wie in Zeitlupe spielen und vor denen sich die Nachbarn fürchten. Denn Schimpfen ist schwierig, weil draußen nur deutsch gesprochen wird und die Kinder drinnen nur polnisch oder russisch sprechen. Ab und zu gibt es Beschwerden bei der Lagerleitung über die „Pollaken“. Seit sich in der Nachbarschaft Pläne für einen neuen Zaun ohne Stacheldraht herumgesprochen haben, herrscht Aufregung in den gepflegt deutschen Gärtchen: Nachbarn boten an, Mehrkosten für Stacheldraht notfalls aus eigener Tasche draufzulegen.
Die auf der anderen Seite des Zauns finden Deutschland trotzdem „sehr hibsch“ und Polen „sehr arm“: „Nuscht zu krie
gen“. Obwohl er nur Sozialhilfe bekommt, sei sein Lebensstandard hier dreimal so hoch wie in Polen, erzählt ein Schlossermeister, der seit vier Monaten im Lager wohnt und zum nächsten Ersten eine Wohnung in Gröpelingen gefunden hat. 11 Ausreiseanträge hat er seit 1962 gestellt. Beim 12. gab ihm der polnische Beamte selbst den Tip, eine Schiffsreise zu buchen und einfach nicht zurückzukehren.
So kommt man ins Lager. Acht Zimmer pro Haus, vier Stahlrohr-Etagenbetten pro Zimmer, zwei Schränke, ein Tisch, ein paar Stühle, manchmal ein oder zwei Gitterbettchen für die Kinder. Um die Mittagszeit riecht es im ganzen Haus nach Kohlsuppe.
Die Kochdünste ziehen durch die offenen Fenster, an denen die letzte Farbe abblättert.
Wer schon ein paar Monate da ist und noch immer keine Wohnung hat, dafür aber ein paar deutsche Verwandte, versucht, sich ein bißchen „wohnlich“ einzurichten. Das erste ist der eigene Fernseher. Manche haben ein ausrangiertes Sofa oder ein paar Sessel mit abgewetzten Brokatbezügen aufgetrieben. Auf den tristen Stahlrohrbetten sorgt eine buntgeblümte Tagesdecke für „Gemütlichkeit“. Wer kommt, wird als erstes aufs Amt für Zuwanderer und Aussiedler geschickt. Der Personalausweis muß beantragt werden, Ansprüche auf Lastenausgleich, Rente, Sozialhilfe, Arbeitslosengeld müssen geprüft, Berechtigungsscheine für eine Sozialwohnung ausgestellt werden. Wer nie deutsch gelernt oder nach mehr als vierzig Jahren fast alles verlernt hat, darf acht Monate lang täglich acht Stunden an einem Deutschkurs teilnehmen. Mit ausreichenden Sprachkenntnisse sind Facharbeiter aus Polen durchaus nicht chancenlos bei der Arbeitssuche: „Aufmucken kennen die ja gar nicht“, weiß eine Mitarbeiterin.
Aus Polen kommen die meisten der 170 Leute, die derzeit im Lager Lesum wohnen. Aus Oppeln, Allenstein oder Gdingen. Die polnischen Namen Opole, Olsztyn, Gdynia vermeiden sie. Sie sind „bewußte Deutsche“, sagen sie. Wie die Lagerleiterin, Karin Rebettge, die auch nicht von Polen, sondern von „polnisch besetzten deutschen Ostgebieten“ spricht.
Lager. Daß jetzt erstmalig eines der Häuser gründlich reno
viert wurde, sieht Karin Rebettge durchaus mit gemischten Gefühlen. Frische Farbe an den Wänden, Linoleumfußböden, neue Toiletten, in den Gemeinschaftswaschräumen für jede Familie ein eigenes Porzellan-Waschbecken - alles gut und schön. Aber auch riskant: Karin Rebettge fürchtet, daß man die Aussiedler „überhaupt nicht mehr los wird“, wenn man es ihnen zu gemütlich macht. Mancher, vor allem, wer keine Verwandten hat, geht sowieso nur ungern wieder. Im Lager ist man unter sich, kann sich polnisch unterhalten, über die Kinder reden oder die Ehefrauen, die hoffentlich bald nachkommen dürfen. Wer erst eine Wohnung gefunden hat, muß sich zurechtfinden, auch wenn er nur ein paar Brocken deutsch kann, arbeitslos ist und die Nachbarn sich wundern, wie man sechs und mehr Kinder in die Welt setzen kann und dann „auf unsere Kosten“ lebt.
Der Bürgermeister und Sozial
senator, der sich gestern die ersten renovierten Räume anguckte, hat solche Vorurteile nicht. Er will, daß alle 1.400 Aussiedler, die allein in diesem Jahr in Bremen erwartet werden, „menschenwürdig“ untergebracht werden. Selbst wenn sie zu den „abenteuerlichsten Tageszeiten plötzlich mit Sack und Pack auf der Matte stehen“.
Als der Senator sich vor geladenen JournalistInnen gestern genug über die frische Farbe in den noch leeren Räumen gefreut hatte, gab es Häppchen für die Gäste. Roastbeaf mit Mayonnaise-Tupfern, Schinken auf Baguette-Schnittchen. Dazu wahlweise Sekt oder Orangensaft. Als die Gäste satt und auf dem Nachhauseweg sind, trauen sich ein paar Bewohner zum „Reste-Essen“ in die neuen Räume. Warum auch nicht? Das Buffet mußte ohnehin abgebaut werden und Platz geschafft werden für - vier Stahlrohr-Betten, zwei Schränke, einen Tisch.
K.S.
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