: Auslese ist ein Fakt
taz-Podium zur Schule der Zukunft: Vor der Landtagswahl in Schleswig-Holstein fordern Lehrer und Schüler eine zehnjährige Schule für alle. Der Philologenverband verteidigt dagegen die Gymnasien
aus Kiel Eva Weikert
Lehrer Peter Swane eröffnete den Abend mit einer privaten Episode: Selbst Vater von Gymnasiasten, ist ihm „eines Morgens aufgefallen, dass meine Kinder an der Bushaltestelle nicht mehr mit den Realschülern reden“. Das war vor zwölf Jahren und ein Schlüsselerlebnis, das den Eckernförder dazu bewegte, seinen Gymnasiallehrerjob aufzugeben und an eine Gesamtschule zu wechseln. Er habe erlebt, „wie an Gymnasien stark ausgegrenzt wurde“, geißelte Swane das dreigliedrige Schulsystem auf einem Podium im Kieler Veranstaltungszentrum „Pumpe“. Dorthin hatte die taz nord am Dienstag geladen, um über eines der wichtigen Themen im schleswig-holsteinischen Wahlkampf zu streiten – die Schule der Zukunft.
Denn bei der Landtagswahl am Sonntag entscheiden die Schleswig-Holsteiner auch über ihr Schulsystem. Und nirgendwo liegen die Parteien weiter auseinander als in der Schulformdebatte. Nach Vorbild der skandinavischen Pisa-Sieger will die rot-grüne Landesregierung das dreigliedrige Schulsystem und die Sortierung nach Klasse 4 abschaffen.
Für die schwarz-gelbe Opposition käme die Auflösung von Gymnasium, Real- und Hauptschule in einer zehnjährigen Grundschule hingegen „dem Untergang des Abendlandes gleich“, spöttelte Jörg Senkspiel, der wie Swane für die Lehrergewerkschaft GEW auf dem Podium saß. Das heutige Schulsystem sei ungerecht, so der Leiter von Schleswig-Holsteins einziger Ganztagsrealschule, weil darin die Herkunft über die Schulkarriere entscheide. So hätte der Akademikernachwuchs hierzulande sechsfach höhere Chancen das Abi zu erreichen als Arbeiterkinder. In einer Gemeinschaftsschule erhielten Schwächere „durch das Lernen mit anderen ein breiteres Wissensband“, meinte auch Landesberufsschülersprecher Timon Kolterjahn: „Im dreigliedrigen System wird zu viel geistiges Potenzial weggeworfen.“
Warnungen, die Walter Tetzloff in den Wind schoss. Er sprach für den Philologenverband, der Berufsvertretung der Gymnasiallehrer, und war an diesem Abend einer der wenigen Fans der Dreigliedrigkeit: Das System genieße „hohe Akzeptanz, Zwangsvereinheitlichung wäre undemokratisch“. Zugleich behauptete Tetzloff, die Schulempfehlungen der Grundschullehrer „stimmen zum allergrößten Teil“. Auch garantiere der zweite Bildungsweg soziale Durchlässigkeit: „Jeder Abschluss ist auch ein Anschluss.“
So viel Lob für den Status quo brachte die Zuhörer in Rage. „Auslese ist ein Fakt, den Sie nicht klein reden können“, schmetterte Schülerin Kristin Möller dem Verbandssprecher entgegen. „Drei Jahre musste ich mich rechtfertigen, dass meine Mutter keine Akademikerin ist, dann wurde ich nach der 8. Klasse ausgelesen“, sagte die Berufsschülerin. GEWLer Swane warnte, die Treffsicherheit der Lehrerempfehlungen sei nur bei guten und schlechten Grundschülern hoch. Bei jenen 50 Prozent im mittleren Leistungsbereich lägen die Gutachten häufig fehl.
„Bildung ist kein Zustand, sondern eine Entwicklung“, sekundierte Klaus-Dieter Harder vom Landeselternbeirat Gesamtschulen. Mit Verweis auf Skandinavien, wo mit bis zu 70 Prozent doppelt so viele Schüler Abi machen wie in Deutschland, warb er vor dem Publikum aus Eltern, Schülern und Lehrern für eine gemeinsame Schule. Fünf Prozent der Hauptschulempfohlenen erreichten an einer Gesamtschule die Hochschulreife: „Die Zahl lässt sich empfehlen.“ Wie Swane ergänzte, lernt an der integrierten Gesamtschule Eckernförde die Hälfte der Schüler auf Realschulniveau weiter bis zum Abi.
Eine Abiquote von 17 Prozent wie in Bayern „ist zu wenig“, räumte auch Philologenverbandssprecher Tetzloff ein. Um mehr Menschen besser auszubilden, müsse aber die vorschulische Förderung verstärkt, Angebote für Hochbegabte wie für Spätentwickler aus- und der Unterrichtsausfall abgebaut werden. „Was getan werden muss, muss im System erfolgen.“
Laute Zustimmung gab es von einer Mutter im Publikum. „Mein Sohn ist ein stiller, der am Gymnasium weniger sozialen Reibereien ausgesetzt ist“, plädierte sie für die Dreiteilung, die sich am alten Ständesystem orientiert. „Soziale Konflikte“, belehrte indes GEWLer Swane, „gibt es an allen Schularten.“ Und Kollege Senkspiel warnte: „Wenn wir alle Kinder aus bildungsfernen Schichten zusammenpacken, kommen wir nicht weiter.“