piwik no script img

Ausgehen und rumstehen von Stephanie GrimmWenn die Skalitzer Straße zu Brooklyn in den 1990ern wird

An einem normalen Pfingstwochenende wäre unsere Wandergruppe wandern gegangen, vielleicht sogar mit Übernachtung. Das hatten wir selbst während Corona hinbekommen. Aber dieses Pfingsten ist nicht gewöhnlich, sondern das lange Wochenende nach Einführung des 9-Euro-Tickets. Auch wenn der mangelnde Enthusiasmus nicht damit begründet wurde. Eher war der Tenor „Ach na ja, nix tun wär auch mal schön“. Derzeit überlegt man sich ja dreimal, ob man überhaupt irgendwo hinwill.

Das Highlight der Woche – nein, des Monats – habe ich sowieso vermutlich hinter mir. Am Mittwoch feierte die neue hiesige Supergroup Painting ihren Albumrelease in der rappelvollen Kantine Berghain – was toll war, toller noch, als das auch schon tolle Album vermuten ließ: Flirrend und psychedelisch fräste sich ihr Art-Pop ins Ohr. Am Ende sind alle klatschnass und euphorisiert. Und in der Kantine ist es nach zweieinhalb Jahren, als sei man nie weg gewesen. Sogar das Feuer im Kamin lodert und sorgt für noch mehr Schwitzerei.

Der Abend war so befriedigend, dass ich mich in puncto FOMO entspanne – auch ohne Ausflugsoption. Am Freitag dann auf dem Weg ins Freiluftkino ein Zwischenstopp beim Buchladen Motto: ein weiterer Record Release. Das Gegenprogramm zur Painting-Ekstase, aber ebenfalls schön. Das neue Label INFO veröffentlicht frühe Arbeiten der New Yorker Künstlerin Kristin Oppenheim, erstmals als „Musik“; sonst sind ihre Soundinstallationen in Museen und Galerien zu erleben. Zur Listening Session haben sich zwei Dutzend Leute in dem Kreuzberger Hinterhof eingefunden. Ein paar sitzen auf Bierbänken, die meisten liegen auf dem Boden und gucken den Wolken und den Vögeln zu, die ordentlich Geschrei veranstalten. Auch die wuselige Skalitzer Straße trägt zur Klanglandschaft bei. Aus den Boxen dringt Oppenheims eher zarte Stimme, mantraartig und repetitiv geschichtete Satzfragmente. Ein Plattenspieler spielt ab, was Oppenheim in den frühen 1990ern in Brookyn zusammengebastelt hat, unter Zuhilfenahme eines Kassettendecks.

Danach gibt es ein bisschen Kontext. Reece Cox, der in Berlin ansässige Künstler und Labelbetreiber, erweist sich als Fanboy. Noch als Jugendlicher habe er diese Aufnahmen auf Ubuweb, einem Online-Archiv für Avantgardistisches, entdeckt und gern zu Hause gehört. Jahre später, als er in einem New Yorker Museum arbeitete, lernte er die Künstlerin dann kennen – und wirkte nun sehr glücklich, dass jetzt auch Menschen, die sich nicht regelmäßig auf Ubuweb rumtreiben, ihre Klangwelten überallhin mitnehmen können.

Das überwiegend amerikanische Publikum wird sich beim Talk schnell einig, dass Berlin heute ist, wie New York in den 1990er war. Obwohl die meisten der Anwesenden da vermutlich erst im Kindergarten waren. Schon allein deshalb sei es gut gewesen, bei der Listening Session die Tür zum Hof offenzulassen, obwohl draußen die U-Bahn langrumpelte. Schließlich sei vor Oppenheims Fenster damals wohl die A-Train langgefahren. Als das Gespräch diese Wendung nimmt, muss ich dann doch gehen. Auch wenn sich die meisten Leute, mich eingeschlossen, neue Orte bisweilen als Themenpark für dies oder jenes erschließen, machen mir solche Projektionen schlechte Laune. Die jetzt in Berlin dem New York von damals nachjagen, sind dann vermutlich in 20 Jahren nicht mehr hier. Und Berlin will mich als voraussichtlich arme Rentnerin dann auch nicht mehr – zumindest, wenn die Stadt in eine ähnliche Richtung entwickelt wie New York.

Die meisten liegen auf dem Boden und gucken Wolken und Vögeln zu, die ordentlich Geschrei veranstalten

Im Kino gibt es „Wo in Paris die Sonne aufgeht“. Ein schöner Film, nicht zuletzt weil er um die Liebeswirren junger Leute alle Klischee vermeidet, die einem zur Stadt der Liebe so einfallen können.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen