Ausgehen und rumstehen von Sophie Jung: Wenn Bordsteinezu kargen Felsen werden
Ihr sehniger Rücken schien mit jeder Bewegung Grimassen zu ziehen. Die Muskeln zogen lange dünne Linien an den Schulterblättern der zum Boden gebeugten halbnackten Performerin Federica Dauri. Bei jedem Dehnen meinte man, ein Quietschen der Fasern zu hören. Peaches, die im Publikum saß, reagierte auf die Performance mit einem angestrengten Kreisen ihres Kopfes. Nackenverspannungen? Der hinter ihr sitzende Vertraute jedenfalls sah das als Einladung. Mit ziemlicher Ausdauer, denn selbst als Federica Dauri sich längst wieder erhoben hatte und die klangliche Landschaft ihres Körpers – so die Ankündigung dieser Performance – nun durch ein ekstatisches Rotieren ihrer Brüste auftat, drückte der Hilfsbereite seine Daumen tief in Peaches’ Nacken.
Ich war schnell am Freitagabend für diese Performance von meiner Wohnung zur Galerie Xavier La Boulbenne gerannt. Hastig um die Ecke gebogen, stieß ich mit einem Mann, nein: mit einem Wolf zusammen. Der graue Wilde mit seinem langen Kunstfellmantel und dem zotteligen Bart knurrte mich an und floh zurück auf den Kottbusser Damm. Von der Seite zwinkerte mir Feridun Zaimoglu mit seinen unterlaufenden Augen schalkhaft zu, als hätte er den Vorfall herbeibeschworen. Ein Wolf, Feridun Zaimoglu – was für einen psychedelischen Trunk hatte ich vorher nur zu mir genommen? Ein einfacher Negroni war es gewesen. Seit ich Mutter bin, habe ich spätnächtliche Drinks an der Bar auf den frühen Abend daheim verschoben. Auch der Freund, der uns zuvor in der Neuköllner Wohnung mit seinem agilen Sohn besuchte, hatte sich gerne diesem elterlichen Thirty-Somethings-Wochendeinklang angeschlossen. Und da standen wir am Freitag 18 Uhr, Bossa Nova aus den Boxen, den verrührten Drink aus Gin und Wermut mit Kräutern aus dem Schwarzwald schlürfend (das Psychedelikum?), während unsere Kinder in lieblicher Konkurrenz um ihre Spielsachen feilschten.
Psychedelische Fantasie ist gut, wenn man ein kleines Kind hat. Der Gang zum Bäcker am Samstagmorgen gestaltet sich dann zu einer abenteuerlichen Irrfahrt. Bordsteine werden zu kargen Felsen, Laub zum wogenden Meer und eine trotz fader Dezembersonne goldleuchtende Lache Hunde-Urin auf einer Plastikfolie ist ein mythischer Schatz, der nicht angetastet werden sollte. Als auf dem Rückweg ein Junkie in unserem Treppenhaus liegt, verlässt mich jedoch die psychedelische Eingabe. Was sage ich der Tochter? Der Erschlaffte muss schlafen, sein Leben ist so anstrengend.
Und so zerrüttet dieser aus der Welt geworfene Junkie mein schönes Konzept vom Samstagabend. Soll er nicht der Moment der Woche sein, an dem man sich von der Last des freien und abhängigen Arbeitens freischält? Auch der Junge, der mir nachts am Geldautomaten begegnet, keine zwanzig, und an seinem Samstagabend damit Geld verdient, die Sparkassen entlang der Karl-Marx-Straße von Obdachlosen fernzuhalten, schließt sich dieser Definition nicht an. Trotzig will ich meinem Samstagabend. Der endet schließlich bei einem tiefen Röhren, als wäre es aus dem Rachen eines Elchs direkt in die Boxen des Kellerclubs vom Arkaoda gelangt. Vielleicht dreißig Leute wiegen sich im Dunkel zu diesem elektronischen Brunftruf, den Dmytro Nikolaienko hinterm Mischpult langsam zu einem Trommeln umformt.
Das ukrainische Label Muskut gestaltet dort eine Clubnacht für die Insichgekehrten. Als Bryozone auftreten, meint man zwei Schachspieler bei einer Partie beizuwohnen, derart konzentriert drehen die beiden, einander gegenüber sitzend, an ihren Koffersynthesizern herum. Von der unaufgeregten Konstellation werde ich überwältigt: Das Arkaoda, betrieben von Exil-Istanbulern, Musiker aus Kiew – die politischen Konflikte in Europa verengen sich in diesem kleinen Kellerclub und spielen trotzdem und zum Glück gar keine Rolle.
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