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Ausgehen und rumstehen von Sophia ZessnikMit Gewürzgurken gegen die Verzweiflung

Eigentlich ist mir nicht danach, (r)auszugehen an diesem Wochenende. Statt nach Ausgehen und Rumstehen fühlt sich die Welt wieder nach Zuhausebleiben und Rumsitzen an, und das nicht nur wegen des trüben Novemberwetters. Ich schwanke gerade sehr zwischen der Vernunft, die von mir erwartet, meine Kontakte zu beschränken, wie es auch der scheidende Gesundheitsminister sowie der RKI-Chef wieder eindrücklich fordern, und dem Verlangen, noch mal aufzusaugen, was geht, bevor wieder nichts mehr geht.

Deswegen und weil ich hier schlecht darüber schreiben kann, wie ich stundenlang auf meine Raufasertapete starre, raffe ich mich am Freitag auf und fahre in die Kletterhalle. Möglichst früh, weil billiger und weniger los. Und tatsächlich: Die Menschen vor Ort lassen sich an einer Hand abzählen. Dennoch erscheint es mir immer noch seltsam, dass, sobald man die Wand erklimmt, ein Tragen des Mund-Nasen-Schutzes nicht mehr obligatorisch ist. Genießen kann ich das Ganze nicht so recht, besonders als sich die Halle nach einiger Zeit mit Kindergruppen füllt. „Ich wette, mindestens drei von den Kindern haben Corona“, sagt A. neben mir, während sie aus ihrer Tupperdose löffelt, die Maske unterm Kinn geparkt.

Die Bemerkung löst Unbehagen in mir aus und ich merke, wie viel angespannter und unkonzentrierter ich danach bin. Da ist es wieder, das Gefühl einer lauernden Gefahr, das mich nun schon seit knapp 21 Monaten immer wieder überfällt. Ich bin mütend, denke ich und krame diesen Coronaneologismus wieder aus den Untiefen meines Bewusstseins.

Stimmungstechnisch – und auch weil die Vernunft es ja sagt, – will ich eigentlich zu Hause sitzen und mich vor den Viren dieser Welt verstecken. Doch sobald ich alleine in meinen vier Wänden sitze, werde ich unruhig – tigere und kippele herum, wie der Zappel-Philipp aus Heinrich Hoffmanns „Struwwelpeter“.

„Irgendwann fängt man an, die Wände zu hassen, die einen haben leiden sehen“, sagt Cornelius Schwalm in seiner Rolle des Edward Broderick, einem Baumwollplantagenbesitzer im Theaterstück „Süden“, und ich fühle es sehr. Als Gastspiel von Les Théâtres de la Ville de Luxembourg ist „Süden“ gerade im Deutschen Theater zu sehen. Ich habe P. überredet mitzukommen und da sitzen wir nun zwischen lauter anderen Mas­ken­trä­ge­r*in­nen (hier muss man den MNS inzwischen auch am Platz aufbehalten), von denen einige vor sich hin husten.

Links vorne im Bühnenbild (von Marie-Luce Theis) steht ein riesiges Einmachglas mit eingelegten Gewürzgurken. Ich spüre meinen Magen grummeln. Die Gurken faszinieren mich, auch wenn ich nicht ganz verstehe, warum sie für die Adaption von Julien Greens Stück wichtig sind. Es scheint, als würde von den Charakteren immer dann tief ins Glas gegriffen und nach einer Gurke geangelt, wenn deren Verzweiflung besonders stark ist.

Das 1953 erschienene und heute von Thierry Mousset inszenierte „Süden“ spielt in der Nacht vor Beginn des amerikanischen Sezessionskriegs (1861−1865) auf einer fiktiven Baumwollplantage in den Südstaaten der USA. Hier prallt die Welt des aufgeklärten Nordens auf die des gegenteiligen Südens, je­de*r beansprucht eine Wahrheit für sich, die gesellschaftlich geprägt sowie individuell gefärbt ist. Oberflächlich drehen sich die Dialoge um Religion, Rassismus (der hier natürlich noch nicht benannt wird) und Krieg, doch eigentlich sind alle in erster Linie maßlos überfordert. Sie warten auf eine Katastrophe, vor der (heute würde man sie vermutlich so nennen) Ex­per­t*in­nen warnten – wiederholt warnten, und fürchten sich dabei vor der Zukunft und den eigenen Gefühlen. Es kommt mir alles so bekannt vor, dass ich lachen könnte, wäre es nicht zum Verzweifeln.

Nach dem Stück beschließe ich, erst mal nicht mehr auszugehen. Stattdessen werde ich wieder zu Hause bleiben und rumsitzen. Vielleicht hamstere ich mir vorsichtshalber noch ein paar Gläser Gewürzgurken. Schaden kann’s nicht.

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