Ausgehen und rumstehen von Marielle Kreienborg: Langsam schmelzender Abstand
Kann man Geselligkeit verlernen? Frage ich mich, während ich, schon leicht genervt, auf die Überprüfung meiner nunmehr wichtigsten Dokumente warte. Zeiten, in denen ich mein Mobiltelefon tageweise ausgeschaltet ließ, gehören der Vergangenheit an. „Personalausweis kannste wegschmeißen“, hat mir neulich ein Kellner gesagt, als ich vorbildlich und pflichtbewusst mein Ausweisdokument zur Kenntlichmachung gezückt hatte, „den will keener mehr“. Doch, habe ich gedacht, denn gleichwohl gibt es auch hier, in dieser großen Stadt, immer noch zu viele Menschen, die kein solches Dokument erlangen. Deren Dokument „Duldung“ besagt, und die Monat für Monat zum Amt müssen, um jene „Duldung“ zu verlängern.
Daran denke ich, während die Gründerin des Supper Clubs, den ich an jenem Abend besuche, meinen QR-Code scannt. Obwohl ich weiß, dass mit meinem Impfpass alles okay, mein Nachweis gültig ist, spüre ich bei jeder Kontrolle diese Picosekunde Nervosität, in der ich fürchte, dass etwas schiefgehen, ein rotes X mir den Einlass, die letzten Reminiszenzen unbeschwerten Lebens verwehren könnte. Auch hinter mir kommt Hektik auf: eine Frau hat noch nie von der Corona-Warn-App gehört. „I don’t have that. I don’t leave my house.“ Seit über zehn Monaten sei dies das erste Mal, dass sie sich in geschlossene Räume wage.
Auch drinnen will zunächst keine Stimmung aufkommen: an einem Tisch gedeckt für zehn hocken wir zu fünft. Lassen Platz, fliehen in die äußersten Ecken, verstehen das Wort der anderen nicht, schreien. Das Gebaren erinnert an Putins jüngste Tischzeremonien. Monate der Furcht und Isolation äußern sich in einer legeren Sozialphobie: Menschen müssen erst wieder lernen, wie das ging, dieses Social-Ding. Wie machte man das noch gleich, lachen und reden, lauwarme Witze reißen und Fragen stellen, statt Hiobsbotschaften zu verbreiten. Lediglich bei den Lauten, die den Verzehr der von der brasilianischen Gastgeberin zubereiteten pão de queijo begleiten, sind alle einig: „mhhh“.
Carolina Paoletti hat ihren Supper Club in Hommage an die altägyptische Zwiebelverehrung „The Onion Project“ getauft: Sie und andere befreundete Köchinnen und Köche in Berlin und São Paulo bringen Menschen an einem Tisch zusammen, um gemeinsam den Schichten und Geschichten hinter einem Gericht auf den Grund zu gehen und über Generationen tradierte Familienrezepte nach deren Dreh- und Wendekreisen hin zu befragen.
Auch die Tischgespräche folgen dem Zwiebellook: Erst nach und nach, Gang für Gang, spätestens jedoch in Anbetracht der Käsknöpfl, die die österreichische Köchin Chiara Strobl nach einem Rezept ihrer Großmutter mit drei Voralberger Käsesorten und Unmengen gerösteter Zwiebeln zubereitet hat, legen sich Scham und Panik. Paoletti erzählt von Feijoada-Essen bei 40 Grad, Strobl von ihrer Anstellung als Köchin an einer Waldorfschule, wo ihr die Kinder via Brief mitteilten, dass das Mittagessen nicht geschmeckt habe. Mein Sitznachbar Lukas, Assistenzarzt und Mitglied der Initiative Bunte Kittel, rückt auf und berichtet von Gesundheit als lukrativem Geschäftsmodell und privatisierten Krankenhäusern; auch von dem Mann, der maßgeblich zu jener Entwicklung beigetragen habe: unserem neuen Gesundheitsminister. Um diese harte Kost zu verdauen, tischen die Gastgeberinnen Haselnusseis auf Birnenschnaps auf.
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