Ausgehen und rumstehen von Katja Kollmann: Im Kokon in Katastrophenstimmung
Lars Eidinger steht vor mir. Er ist gefühlt drei Köpfe größer als ich und versperrt mir die Sicht auf die Bühne. Also schaue ich mir seine strähnigen Haare an und dahinter das Brandenburger Tor. Wenige Minuten später ist die Sicht frei. Eidinger ist auf die Bühne geklettert, hat sich einen froschgrünen Strumpf über den Kopf gezogen und schaut in die Menge der Demonstrierenden.
Eidinger hält keine Rede gegen die drohenden Kürzungen im Kulturetat, sondern wirft mit fragenden, nachdenklichen Worten um sich. Hamlet und Eidinger haben sich hier mal außerhalb der Schaubühne verabredet, denke ich, denn der Text ist poetisch und kryptisch zugleich. Dann hängt Eidinger wie ein Frosch im Anzug an der Wand des Containers, der als Garderobe auf der Bühne steht. Er will nach oben und braucht Hilfe. Kräftig packen einige zu und schieben ihn auf den Container rauf. Visuell ist das jetzt der Hammer: Lars Eidingers grasgrüner Kopf thront in den Lüften direkt vor den Säulen des Brandenburger Tors.
„Ausgehen und rumstehen“ heißt in diesen Zeiten auf die Demo gehen, drei Stunden mit Gleichgesinnten in der Kälte rumstehen und Kathi Thalbach zuhören, die Richard Weizsäcker zitiert, der 1991 sinngemäß feststellte: Kultur ist Lebensmittel einer Gesellschaft und braucht Geld. Das sind Investitionen eines Staates und keine Subventionen. Die Schließung des Schillertheaters hat mich traumatisiert.
Ich bin im Juni 1993 aus der tiefsten bayerischen Provinz nach Berlin gezogen. Mein Plan war, hier jeden Tag ins Theater zu gehen, und dann lebe ich einen Monat hier und das Schillertheater wird über Nacht dichtgemacht. Die jetzt angedrohten Kürzungen haben bei mir etwas getriggert. In Endzeitstimmung frequentiere ich das überbordende kulturelle Angebot, vor dem inneren Auge eine Zukunft, in der es nur noch Kulturstreams aus der Vergangenheit gibt. Ich sollte mich irgendwie wegbeamen aus dieser Gegenwart, die voll ist von politischen Paradigmenwechseln, die einem den Boden unter den Füßen wegziehen, denke ich. Ein guter Ort dafür ist die ehemalige Krankenhauskapelle im Kunstquartier Bethanien. Einmal im Jahr verlasse ich meine Theaterblase und switche rüber zur Neuen Musik. Bei der diesjährigen Klangwerkstatt steht die Klarinette im Zentrum. Dank der Potsdamer Kinderärztin Renate Felicitas Glownik konnte das renommierte ensemble mosaik vier Kompositionsaufträge vergeben. Christian Vogel spielt auf einer riesigen Klarinette, die ich so noch nie in einem Orchestergraben gesehen habe. Sie steht auf einem kleinen Holzschemel. Ich schließe die Augen. Vogel entlockt seinem Instrument ein lautes Atmen.
Töne tropfen in den Raum, bleiben manchmal stehen und sind auch noch da, wenn neue kommen. Sie klettern an imaginären Wänden hoch und runter. Und werden auch mal schrill. So unterschiedlich die Kompositionen auch sind, jeder gelingt es vom ersten Moment an, meine Hautporen zu durchdringen. Alles, was mit Reflexion bzw. Analyse zu tun hat, schaltet sich jetzt aus, und ich bin ganz im Moment. Eine kosmische Geborgenheit macht sich breit in mir. Das tut so gut. Hanan Hadžajlics Komposition könnte man auch im Berghain spielen.
Die Komponistin aus Sarajevo, die in der dortigen Clubszene zu Hause ist, kombiniert hier elektronische Musik, Klarinette und Ensemble. Heraus kommt ein betörender Beat, kraftvoll und poetisch zugleich. Irgendwann mache ich die Augen wieder auf und schaue auf die neogotischen weißen Bögen der ehemaligen Empore. Um mich herum hat sich ein Kokon gebildet, gewebt von der Klarinette. Ich rette ihn bis in die U-Bahn. Dann bekommt er Löcher und wird zerfetzt. Wenn alle kulturpolitischen Stricke reißen: Die Treppe im U-Bahnhof Platz der Luftbrücke hat definitiv Bühnenpotenzial. Must the Show go on?
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