Ausgehen und rumstehen von Jenni Zylka: Der Ursprung allen Hokuspokus
Argentinien ist weiß Gott nicht das einzige Land mit Macho-Problem. Doch so hübsch auf den Punkt gebracht wie im argentinischen Film „Kill the jockey“, der am Freitag das „Box Office Around The World“-Festival im Humboldt-Forum eröffnete, wird diese Tatsache selten. Jener Jockey, dessen Leidenschaften nicht nur auf dem Rücken der Pferde, sondern vor allem in deren Hardcore-Betäubungsmitteln und auf dem Körper seiner Jockeykollegin liegen, wacht nach einem berauschten Rennen ohne Gedächtnis im Krankenhaus auf und wandelt sich bei der Flucht vor (im wahrsten Wortsinn) weitaus größeren Machos in Echtpelz und Make-up sukzessiv in etwas Neues.
Am Freitagabend, während ein Vogelschwarm über dem Innenhof des Forums Abkühlung herbeizuflattern versucht, erzählt Regisseur Luis Ortega vor dem Screening davon, dass er eigentlich keine Drehbücher produziere, sondern mood boards mit Bildern, Ideen und Gefühlen. Funktioniert anscheinend trotzdem: Der Film ist ein Trip und ein Riesen-Kinohit, Argentinien schickt ihn sogar ins Oscar-Rennen. Vermutlich trifft er die Stimmung im gebeutelten Land, dessen ultrakonservativer Präsident gern „Lang lebe die verfickte Freiheit!!“ brüllt, bevor er mit erhobenen Fäusten gegen Abtreibungen wettert und den Klimawandel bestreitet.
Am nächsten Wochenende läuft auf selbigem Festival übrigens ein weiterer lokaler Quotenhit nach einer wahren Geschichte – in „Vitória“ filmt eine aktivistische, brasilianische Seniorin in „Fenster zum Hof“-Manier heimlich den Drogenhandel vor ihrem eigenen Haus und deckt auf, warum die Polizei nichts dagegen tut. Allein wegen der mittlerweile 95-jährigen Hauptdarstellerin Fernanda Montenegro wird einem da schön warm ums kalte Herz. Denn Charme knows no age.
Aber zurück zur alten Hitzewallung: Der Freitagabendrest schmolz bei der Ausstellung „notes on rescue“ in der „Alten Feuerwache“ des Flughafens Tempelhof weiter dahin. Künstler:innen hatten sich dafür Gedanken zum ewig aktuellen Thema Rettung gemacht – das Duo „Hauck Plümpe“ etwa legte so schlicht wie wirkungsvoll ein überdimensionales, nicht funktionstüchtiges Streichholz in die Ecke, das einem todschicken Fidibus ähnelt und demzufolge an den Ursprung der Zauberformel „Hokuspokus Fidibus“ erinnerte. Denn obschon es den Fidibus gibt, streiten sich bei Hokuspokus die Geister: Ist das Küchenlatein? Oder stammt es vom gemurmelten, rudimentär verstandenen „Hoc est enim corpus meum“ („Das ist mein Leib“) bei der katholischen Messe?
Ob David Copperfield das weiß? Aber den will man keinesfalls fragen. Die Künstlerin Bela Brillowska hat für ihren Dokumentarfilm „Carnaval Sauvage“ dagegen einen Karneval in Brüssel gefilmt, auf dem ausschließlich gefundene Materialien zum Verkleiden erlaubt sind. Neben der Nachhaltigkeit sieht das spitze aus: Ein belgischer Narr (die heißen da wahrscheinlich anders) springt mit einer Kopfbedeckung aus baumelnden Filmrollen herum, Pappmaché steht hoch im Kurs. Weil auch das Filmmaterial Super 8 ist, ähnelt der Zug einer glücklichen 60er-Jahre-Hippie-Party. Brillowska macht sich Gedanken über die Rettung des Karnevals vor der Gentrifizierung – denn wenn der Filmhut erst mal „Made in Hongkong“ im Kostümversand erwerbbar ist, wird es zu spät sein! Später legt ein DJ-Set nigerianische Beats auf, Mitglieder eines Rollschuhballetts rollern fröhlich über die Tanzfläche und versprühen „Roller Girl“-Vibes (die Komödie von Drew Barrymore, nicht Paul Thomas Andersons Pornoindustrie-Drama).
Sämtliche restliche Energie sickert am Samstag bei einem gemütlichen Hinterhofgrillen in die Holztische. Der Halloumi ist schnell gar. Und Hallodris sind auch eingeladen.
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