Ausgehen und rumstehen von Hilka Dirks: Schon wieder Essen, schon wieder Unterhaltungen
Als S. und ich Freitagabend das Haus verlassen, kondensiert unser Atem in der Luft. Die Neuköllner Weserstraße ist wie leergefegt, auch die letzten spanischen Touristen scheinen die Stadt verlassen zu haben. Vor dem Späti an der Ecke blinkt einsam die Red-Bull-Reklame. Nicht mal Eule, Motte, Spinner und Schwärmer, die Stammgäste, hocken auf der Bank. Sie wissen nicht, dass ich sie in Gedanken so nenne, seit ich in einem alten Angelbuch über die Klassifizierung der Nachtfalter in diese vier Familien las. „Einfach zu kalt für alles, niemand hier heute.“ sagt auch der Weinhändler am oberen Ende der Straße, als wir eine Flasche für den Abend kaufen und wischt mit dem Arm halbherzig in Richtung der leeren kleinen Tische. Mit Crémant in der Hand stapfen wir weiter. Zwei Ampeln und vier Hinterhöfe später öffnen wir endlich die schwere Tür, die ins Atelier eines befreundeten Künstlerpaars führt.
Gelbes Kerzenlicht scheint auf das als Tischdecke dienende Malerkrepp, an den Wänden hängt die Kunst, im Raum stehen Menschen mit Gläsern, Gelächter, rosa Wangen. Wir mischen uns unter die Gäste. Auf Ah-hallo-und-wer-bist-du, Ich-bin-die. Achso-achso-na-klar-schon-viel-gehört-wie-schön folgt selbstverständlich Und-was-machst-du-so? Dann fangen die Stühle an zu scharren und das Dinner beginnt. Die Tischnachbarn sind unbekannt, eine neue Runde Vorstellen beginnt, bis sich das Gespräch irgendwann auf Sharon Eyal in der Deutschen Oper (fantastisch), den ziellosen Prozess für die eigenen Arbeit (notwendig) und die aktuelle Berliner Kulturpolitik (Horror) erstreckt. Als die Zigaretten nicht mehr aufhören zu glimmen und der Gast aus Brandenburg schon mal nachhorcht, ob er nicht doch auf dem Ateliersofa übernachten könne, weil sonst bis hinter Potsdam und naja ihr wisst,… verabschieden wir uns für die Nacht. Auch von Norden nach Süden gelaufen liegt die Weserstraße so still da, als müsste in einem echten Berlin-Text jederzeit ein Fuchs sie kreuzen, aber selbst der lässt sich nicht blicken.
Am Samstag begrüßt einen die Stadt mit solch brüllendem Chaos, als hätte ich mir die Leere am vorherigen Abend nur eingebildet. Die Sonnenallee ist wie ein verstopfter Ameisenhaufen, die Menschen quillen über in jede noch so kleine Seitenstraße, der Stadtautobahntunnel ist gesperrt und sogar im kleinen Auktionshaus am Grunewald, was ja eigentlich am hinteren Hinten des Ku'damms liegt, wo nie jemand unterwegs ist, tummeln sich erstaunlich viele Leute zur Vorbesichtigung. Es gibt Kekse und Druckgrafik zu so niedrigen Startpreisen, dass ich mich zu einem Vorgebot hinreißen lasse und mich den ganzen Nachhauseweg nicht entscheiden kann, ob ich darauf hoffen soll, doch überboten zu werden oder eben nicht. Auch dieser Abend ist Draußenessen und Rumsitzen, diesmal im Ausstellungsraum SMAC in der Linienstraße. Ich komme recht spät, stibitze mir gerade noch ein kaltes Würstchen und einen Teller Suppe vom leergefegten Buffett. Kultur, Politik, Arbeit, Rotwein, Kunst: Gespräche und Stimmung sind ähnlich wie am Tag zuvor, doch statt Kerzenlicht gibt es Neonröhren und an den Wänden hängen dicke lustige Gemälde von Marlon Wobst und weich aussehenden Papierarbeiten von Jeong Byeonghyeon. Die Schlagartigkeit mit der das geheime Kommando sozialer Konvention manche Abende beendet, überrascht mich immer wieder doch heute bin ich erleichtert. Zu viele Stimmen, zu viele Meinungen, zu viele Gläser. Als ich mich Sonntagmittag auf den Weg zu einem Geburtstagslunch im Schöneberger Mama Odessa mache, atme ich vor dem Restaurant kurz durch und straffe die Schultern. Schon wieder Essen und schon wieder Unterhaltungen. Ich brauche einen Moment, so, als müsste ich in meinem Kopf den richtigen Gang einlegen, aber die Kupplung hakt ein bisschen.
Der Tisch biegt sich fast unter der Masse ukrainischer Speisen. Ich ergebe mich schweigend dem Kauen und komme doch langsam an. Hier ist keine Kunst, hier ist keine Arbeit, keine Kulturpolitik. Dafür Freunde, Hering und Borscht und dazwischen auch endlich ein paar große Stücke echtes Wochenende. Auf dem Heimweg hocken Motte und Eule vor dem Späti. Die Reklame blinkt und die Schnurbäume lassen die letzten Blätter fallen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen