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Ausgehen und rumstehen von Fabian SchroerRote Samtsitze und kalter Asphalt

Also ich würde ja hinfahren!“, sage ich deutlich lauter, als ich eigentlich wollte. Dazu reiße ich meine Hände in die Luft, als hätte mich meine Mutter beim Kuchenklau erwischt.

Durch den grauen Dunst spüre ich vier auf mich gerichtete Augenpaare. Es ist halb zwölf am Freitagabend und wir sitzen im randvollen Raucherbereich des „neuen“ Syndikats nahe dem S-Bahnhof Neukölln. Aus den Lautsprechern dröhnt blecherner Punk. Kurz überlege ich, ob das halbleere Bierglas auf dem Tisch mein drittes oder viertes ist. L. erklärt, es sei doch purer Aktionismus, genau jetzt zu ebendiesem Parteitag fahren zu wollen. Und das auch noch völlig betrunken. Nächstes Mal sollten wir uns das Ganze mal früher überlegen.

B. greift sich verlegen an den Kopf. Seine Freundin, mit der er aus Berlin eine Fernbeziehung führt, ist schon vor Stunden im deutlich weiter vom sächsischen Riesa entfernten Köln in einen Reisebus gestiegen.

Ich schaue nach links. „Fight Back“ steht auf einem Poster über unserem Tisch. Darauf blickt mich ein kleiner grüner Godzilla, der eine rote Fahne in der Pranke hält und mit seinem Feueratem das Logo des Dritten Wegs verbrennt, vorwurfsvoll an.

Ich schaue mich um. Unter den palavernden Trinkenden im Raum sehen wir mit am wenigsten nach Punkrock aus. Trotzdem sitzen die auch alle hier. Und nicht im Bus. Wer will es ihnen verübeln am Freitagabend?

Am nächsten Tag entscheide ich mich, statt meinen kämpferischen Worten vom Abend Taten folgen zu lassen für einen ungefährlichen Theaterabend im Berliner Ensemble. Die „Blechtrommel“ feiert zehnjähriges Jubiläum. Während ich vor den Türen des prunkvollen Brecht-Theaters noch schnell eine rauche, erfahre ich, dass es auch noch ausgerechnet die 161. Aufführung ist. (161 ist der Code für A F A, antifaschistische Aktion.) Mir wird ein bisschen übel.

Im Januar 2015 hatte BE-Intendant Oliver Reese, damals noch in Frankfurt am Main, die eigentlich als Ensemble-Stück geplante Inszenierung, infolge eines ominösen Regie-Ausfalls in einer Nacht-und-Nebel-Aktion völlig umgekrempelt. Seitdem spielt der damals 31-jährigen Nico Holonics sie ganz allein.

Die Adaption von Günter Grass kontroversem 800-Seiten-Schinken über den nervtötenden kleinen Oskar in Nazideutschland, der alle mit seinem Geschrei terrorisiert, wirkt noch immer – auch zusammengeschrumpft zu einem nicht mal zweistündigen Monolog. Holonics rotzt auf den Boden, blafft NS-Parolen, und spielt den Klassiker als überdrehtes Eingeständnis deutscher Schuld. Meine Kopfschmerzen pochen unter den Schlägen der Blechtrommel. Nach der Vorstellung springen die Leute von ihren roten Samtsitzen auf und überschütten Holonics minutenlang mit Applaus. Der verkneift sich die Tränen und bedankt sich bei seinem Publikum.

Im anschließenden Publikumsgespräch erzählen er und Oliver Reese eine Anekdote, die sich während ihres Besuchs bei Grass kurz vor der Premiere des Stücks ereignet habe. Der Nobelpreisträger habe den jungen Schauspieler damals beiseitegenommen und ihm gesagt: „Dass Sie heute 2015 diesen Text noch so gerne mögen und auswendig lernen wollen, das macht mich richtig stolz und ist mir eine große Freude.“ Holonics habe das sehr berührt.

In einer beschaulichen Stadt in Sachsen setzen sich viel früher am Tag ein paar tausend Menschen, die am Abend vielleicht nicht zu viel Bier hatten, lieber auf den kalten Asphalt als in einen warmen Theatersessel. Trotzdem wird dann eine Frau einstimmig zur Kanzlerkandidatin der laut Umfragen gerade zweitstärksten Partei in Deutschland gewählt. Eine Frau, die in ihrer Rede massenhafte „Remigration“ verspricht. Auch sie erhält tosenden Beifall. Von den blaubraunen Tribünen brüllt man die abgewandelte SA-Losung: „Alice für Deutschland“!

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