Ausgehen und rumstehen von Fabian Schroer: Zeit für Erwachsenendinge
Rumms! Ich bin wieder da. Das Getöse war zu laut. Eine Sekunde vielleicht oder zwei muss ich weg gewesen sein. Mühevoll öffne und schließe ich meine Augen, setze mich gerade hin und blicke nach vorn.
Der Publikumsraum des „Sowieso“ ist in dämmriges Licht getaucht. Durch das große Schaufenster fällt das Neon der Leuchtreklame auf die Grüntöne der brüchigen Kacheln und die floral gemusterten Tapeten. Auf Schulstühlen sitzen ein paar Dutzend Leute, ihre Gesichter in die Nische gerichtet, die als Bühne dient und in der vier Menschen musizieren.
Das Brad Henkel Quartett – Rieko Okuda am Piano, Isabel Rößler am Kontrabass, Sam Hall an den Drums und Brad an der Trompete – bringt seine Instrumente zum Vibrieren. Ihr Klang stakst wie eine riesige Gottesanbeterin durch den Raum. Bass und Trompete klettern in beständigem Gleichschritt eine Treppe hinauf, um im nächsten Moment unter Gepolter wieder hinunterzufallen. Ich reibe mir die Augen.
Es ist Pause, wir stehen zwischen Rauchenden in Wollmänteln, Lederjacken, mit kleinen Fischermützen und Chelsea Boots auf dem Gehsteig. „Es kann doch nicht sein, dass wir keine zwei Tage mehr hintereinander trinken können“, sagt J. zu mir und nippt an ihrem winzigen Weißwein. Ich blicke in den schwindenden Inhalt ihres Glases, dann durch J. hindurch auf die glänzenden Schuhe eines Mannes. Der Begriff „Shrinkflation“ kommt mir in den Sinn, der das Phänomen beschreibt, dass der Inhalt eines Produktes schrumpft, während der Preis gleich bleibt. „Shrinkflation“ ist ein Kofferwort und setzt sich zusammen aus dem englischen shrink (schrumpfen) und dem Fachbegriff Inflation (aufblähen). Verbreitet wird daher auch der Begriff Schrumpflation verwendet.
„Äh, sorry, was hast du gesagt?“, frage ich J. und gähne.
Trompeter Brad beginnt Set 2 mit leisem Pfeifen auf dem Mundstück seines Instruments. Ein Schmatzen und Schnaufen geht über in Prusten und Dröhnen, nimmt Fahrt auf, wird zu einem Sturm aus Halbtönen und fegt über die Zuhörenden hinweg. Während die Band beim Spielen extrovertiert ihre Körper im Rhythmus bewegt, fixiert Brad wachsam das Papier mit seinen Kompositionen. Diesmal schließe ich die Augen mit Absicht. Als ich sie wieder öffne, sehe ich, dass auch J. die ihren geschlossen hat und ein Lächeln um ihre Mundwinkel tanzt.
Beim letzten Stück reißt mich der Basslauf wieder voll ins Jetzt. Ein Mann mit lichtem Haar filmt gebannt mit dem Handy, seine Augen haften auf dem Musizierenden. In dem kurzen Augenblick zwischen letztem Ton und Applaus schwingt er seinen Telefonarm herunter und schlägt mit dem Ellbogen eine Bierflasche vom Tisch. Es klirrt laut. Das Publikum bricht in Gelächter aus und klatscht dem Quartett tosenden Beifall.
Eine halbe Stunde später quetschen J. und ich uns mit vier anderen um einen kleinen Tisch im Nichtraucherbereich des „Tennis“ auf der Reuterstraße. A. und M. sprechen über die Kleiderordnung in irgendeiner europäischen Behörde in Wien, bei der A. gerade Praktikum macht, darüber, ob es nun angemessen wäre, in zerrissenen Jeans zum Beispiel einen Botschafter zu treffen. Ich drehe mir eine Zigarette und schaue auf das Loch im Ärmel meiner Jacke.
Im Raucherraum ist die Luft so dick, dass meine Augen sofort zu tränen beginnen. Zwischen schnellen Zügen frage ich J., wie die es hier wohl so lange im Qualm aushalten. J. sagt, dass ich vielleicht langsam anfangen müsse, Erwachsenendinge zu tun. Häuser renovieren, Autos fahren, Hundesteuer zahlen. Und auf Jazz-Konzerte gehen.
Wenigstens mit den Konzerten kann ich mich anfreunden. Kurze Zeit später besiegt mich die Müdigkeit und ich mache mich um Viertel nach 12 als Erster auf den Weg nach Hause.
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