: Ausbeuten … find’ich gut!
Von der Quelle bis zu Temu: Die Ausstellung „Dein Paket ist da“ im Hamburger Museum der Arbeit beleuchtet die Geschichte des Versandhandels. Und der Knochenjobs, die ihn ermöglichen

Von Falk Schreiber
Um in den dritten Stock des Hamburger Museums der Arbeit zu gelangen, erklimmt man 70 Stufen – im Anschluss ist man leicht aus der Puste. Der durchschnittliche Paketzusteller – es sind tatsächlich mehrheitlich Männer – steigt täglich 1.200 Stufen, verrät die Ausstellung „Dein Paket ist da“, die die gesamte dritte Museumsetage einnimmt. Außerdem geht er noch bis zu 20.000 Schritte pro Tag. Und er schleppt Pakete, die bis zu 31,5 Kilogramm wiegen. Wer will, darf ein entsprechendes Gewicht hochheben: Holla! „Pakete sind natürlich nicht immer so handlich“, wirft Ausstellungskuratorin Sandra Schürmann ein, „und sie haben auch nicht immer Griffe an den Seiten.“ Ein Knochenjob.
Die Ausstellung legt einen Fokus auf solche Knochenjob-Verhältnisse. Dass die Geschichte der Lieferdienste auch eine Geschichte der Ausbeutung (und nicht zuletzt des gewerkschaftlichen Versagens angesichts undurchschaubarer Subunternehmer-Strukturen) ist, thematisiert „Dein Paket ist da“ immer wieder: Es gibt einen Überblick über den Wandel der Paketzusteller-Outfits, von Uniformen, die früher an Respektspersonen denken ließen, bis zum heute getragenen Sportiven, das angesichts der schweren Arbeit vor allem praktisch ist.
Allzu praktisch soll die Bekleidung allerdings auch nicht sein: Ein Exoskelett könnte helfen, schwere Gewichte zu tragen, meint Kurator Florian Schütz, eingesetzt werde es allerdings kaum. Was angesichts des hohen Preises nicht verwundert – der Versicherungswert eines einzigen Exemplars liege bei 35.000 Euro. Das ist wirtschaftlich kaum zu stemmen. Lieferdienst, das ist in erster Linie Billigarbeit.
Anlass für „Dein Paket ist da“ ist das 75. Jubiläum des Hamburger Otto-Versands. Einst Platzhirsch unter den Versandhäusern ist das Hamburger Unternehmen heute eines unter vielen – und längst nicht das erste, wenn man an Paketversand denkt. Eine reine Gefälligkeitsschau ist die Ausstellung dabei nicht geworden, auch wenn Otto ungefähr 20 Prozent des Etats übernommen hat: Die Schattenseiten des Gewerbes werden deutlich angesprochen.
Ausstellung „Dein Paket ist da! Shoppen auf Bestellung“: Museum der Arbeit, Hamburg. Bis 3. August
Wenn auch für manche Besucher*innen nicht deutlich genug: „Uns wurde mehrfach vorgeworfen, dass wir Lieferdienste nicht nur negativ sehen“, meint Kuratorin Schürmann. Tatsächlich ist ihre Perspektive neben der arbeitspraktischen auch eine kulturgeschichtliche: Was bedeutet Versandhandel eigentlich für unser Zusammenleben? Wie verändert sich der gesellschaftliche Austausch, der übers Einkaufen abläuft?
Versandhandel, das hat auch etwas mit Empowerment zu tun. Schürmann beschreibt, wie schwer es lange Zeit für Anhänger*innen von Subkulturen war, außerhalb der Metropolen an entsprechende Insignien zu kommen. Punks, Goths und Clubgänger*innen konnten sich nur über Katalogbestellungen mit Tonträgern und Mode ausstaffieren (und was für ästhetische Stilblüten diese Katalogkultur mit sich brachte, das erfährt man beim genüsslichen Stöbern in den verschlissenen Druckerzeugnissen).
Sandra Schürmann, Kuratorin
Ein weiteres Beispiel sind Produkte, deren Kauf einem peinlich ist – etwa Sextoys. Wobei die Ausstellung nicht verschweigt, dass die gewünschte Anonymität beim Versandhandel ein Trugschluss ist: Zwar sieht der Verkäufer nicht, was man einkauft, dafür besitzt der Händler im Anschluss die volle Lieferadresse.
Was Schürmann und Schütz bei diesem vielperspektivischen Zugriff hilft: die Präsentation. Die ist nämlich nicht traditionell chronologisch, sondern nimmt die Akteur*innen des Versandhandels in den Blick, die Konsument*innen, die Paketboten, die Logistik, schließlich die Unternehmen. Das ermöglicht der Ausstellung, einerseits das wirtschaftliche Genie von Unternehmen wie Otto, der Pioniere Mey & Endlich (ab 1887) und globaler Konzerne wie Amazon zu würdigen, andererseits die Nöte der Arbeiter*innen im Blick zu behalten und schließlich auch die Motivation der Kund*innen zu berücksichtigen.

Das ist klug konzipiert, vernachlässigt allerdings einen wichtigen Aspekt: den sinnlichen Genuss, der mit dem Konsum einhergeht. Im Grunde ist die Ausstellung eine Abfolge von Kapiteln, die mal immersiv erfahrbar, mal drastisch, mal humorvoll und mal statistisch nüchtern bestimmte Themenfelder behandeln. Doch auf einer emotionalen Ebene wird man selten gepackt.
Immerhin, zum Einstieg gibt es den künstlerischen Zugriff „All Now, All Free!“ von Michael Heindl: ein Kunstwerk, das ausschließlich mit geliefertem Material hergestellt wurde. Selbst die Kamera, mit der Heindl seine Kunstproduktion filmte, kam per Lieferdienst. Wobei der Künstler von seinem Rückgaberecht Gebrauch machte und die Objekte allesamt wieder zurückschickte. Übrig bleibt eine Pappkartonskulptur. Die ist so schön, so lustig, so berührend, man spürt plötzlich, dass in der grenzenlosen Abfolge des Bestellens, Unboxings und Retournierens ein Reiz steckt, der sich mit dem Zahlenwerk von Handelsbilanzen und Arbeitszeitmodellen kaum erfassen lässt. 1.200 Stufen, 20.000 Schritte.
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