■ Aus gegebenem Anlaß: Naturverhältnisse
Von der Astronomie aus gesehen ist es piepegal, ob der Präsident des Bundeskriminalamts zurücktritt und die GSG 9 ersatzlos aufgelöst wird. Jedwede Aktualität wird bedeutungslos, wenn man das Fernrohr auf den Nachthimmel richtet. Obwohl die linke Theorie zahlreiche Begriffe aus Wissenschaften entlehnt hat, die mit dem Zeitmaß von Jahrmillionen operieren („Struktur“ und „Formation“ aus der Geologie, „Krise“ und „Revolution“ aus der Astronomie), geht es ihr eigentlich darum, „das Ganze“ möglichst noch zu Lebzeiten der beteiligten Akteure umzuwälzen. Umgekehrt verabscheut zwar die Rechte den Gebrauch sozialer Kategorien „langer Dauer“. Dafür versucht sie, gesellschaftliche Problemlagen ins ewi-
ge Reich der Natur zurückzuverweisen — und sei es das der Menschennatur, der so wenig veränderba-
ren.
Spannend wird die Konkurrenz beider Sichtweisen anläßlich von Naturkatastrophen. Für die Rechte kein Problem: Spielt die Katastrophe in der Dritten Welt, ist Caritas angesagt, untermalt von elegischen Kommentaren zur Vergeblichkeit unseres Kampfs gegen die Naturgewalten. Auch ein wenig klammheimliche Freude darf dabei sein, daß Mutter Erde wieder mal was gegen die Bevölkerungsexplosion getan hat. Überschwemmungen und Beben in den entwickelten Ländern hingegen bieten Gelegenheit, Technik, Einsatzfreude und Planung zum Bild der perfekten, leider im normalen Leben nicht zu verstetigenden Notstandsgemeinschaft auszumalen.
Die Linke tut sich da etwas schwerer. Der traditionelle Diskurs verweist auf mangelnde gesellschaftliche Vorsorge, ferner, wo irgend möglich, auf die gewissenlose Naturausbeutung durch große Konzerne, die zum Ausbruch der Katastrophe beitrug. Der ökologisch-linke Diskurs hingegen statuiert, daß die jeweilige Katastrophe nur der harmlose Vorbote der künftigen Katastrophenkumulation ist. Entweder das Steuer wird herumgerissen, oder es gilt, sich mit der Vorstellung einer Erde minus Mensch anzufreunden. Wenigstens wäre das ökologische Gleichgewicht dann kein Problem mehr. Außerdem: Der Mensch braucht die Natur, aber die Natur nicht den Menschen.
Wie soll sich der fortschrittliche Zeitungsproduzent und -leser auf den nächsten Vulkanausbruch vorbereiten? Soll er den Spieß umdrehen, eine Reise zum Grand Canyon buchen, um dort anschließend mit Jean Baudrillard auszurufen: „Ich habe die zukünftige und schon verstrichene Katastrophe des Sozialen in der Geologie gesucht“? Oder soll er das, was an der menschlichen wie außermenschlichen Natur nicht veränderbar ist, schlicht ignorieren? Stellungslose Philosophen, die ihr einst im Realsozialismus Dienst tatet: Wir bitten euch um etwas Nachhilfeunterricht, wie die Dialektik der Natur mit dem historischen Materialismus zusammengehen soll! Christian Semler
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