: Aus den Hallen der Harmonie
6.000 Jahre chinesische Kunst: Die Berliner Ausstellung „Schätze der Himmelssöhne“ bringt die kaiserliche Sammlung aus dem Nationalen Palastmuseum Taipeh erstmals nach Deutschland – natürlich nicht ganz ohne diplomatische Schwierigkeiten
von CHRISTIAN SEMLER
Zwei Berliner Ausstellungen im Abstand von 18 Jahren – zum gleichen Thema, aber höchst unterschiedlicher politischer Herkunft: im Sommer 1985 im Martin-Gropius-Bau die Ausstellung „Palastmuseum Peking“ mit „Schätzen aus der Verbotenen Stadt“. Und nun im Alten Museum die große China-Schau, die sich „Schätze der Himmelssöhne“ nennt und die „kaiserliche Sammlung aus dem Nationalen Palastmuseum Taipeh“ zeigt.
Die Taipeh-Sammlung enthält den Kernbestand der alten kaiserlichen Palastsammlung. Generalissimus Tschiang Kai-schek hatte sie nach der militärischen Niederlage gegen die kommunistischen Armeen Maos nach Taiwan mitgehen lassen, gut verpackt in über 2.000 Kisten – eine logistische Großtat des als Feldherr wie Politiker glücklosen Führers der Kuomintang.
Seit Mitte der Sechzigerjahre ist eine kleine Auswahl der über eine halbe Million Objekte umfassenden Sammlung im neu erbauten Nationalmuseum der taiwanesischen Hauptstadt zu sehen, sorgfältig gehütet und gepflegt. Die Pekinger Sammlung ist aber keineswegs der auf dem Festland verbliebene, von Tschiang verschmähte schäbige Rest, sondern ein durch Schenkungen und sogar Rückkäufe bereicherter Schatz. Hinzu kamen die Funde, die aus einer erfolgreichen Grabungstätigkeit resultierten – und dies schon in den Siebzigerjahren, also zur Zeit der so oft beklagten „Kulturbarbarei“ der Roten Garden.
So lange die Kuomintang auf Taiwan herrschte, galt der Alleinvertretungsanspruch der „Republik China“ im Rahmen der „Ein China“-Theorie, wie sie, unter umgekehrtem Vorzeichen, auch in der Volksrepublik China vertreten wurde und wird. Weshalb des Palastmuseum von der Kuomintang als gesamtchinesisches Kulturerbe angesehen wurde, das nach der Vertreibung der Kommunisten umgehend wieder nach Peking zurückzubefördern sei. Das Gleiche meinte die Regierung Pekings, bezogen auf die Vertreibung der Nationalisten aus Taiwan. Keine der beiden Wunschvorstellungen traf ein, aber mit dem Modus Vivendi ließ sich leben.
Schwierig wurde die Lage erst, als auf Taiwan die Kräfte erstarkten, die für die Unabhängigkeit der Insel eintreten. Würde diese tatsächlich erklärt, würde das Palastmuseum ins Eigentum des neuen taiwanesischen Staates übergehen. Das könnte die chinesische Regierung ebenso wenig akzeptieren wie die Unabhängigkeitserklärung selbst. Denn Taiwan gilt nach wie vor als Bestandteil Chinas.
Für die taiwanesischen Museumsleute heißt es in dieser unsicheren Lage, auf der Hut zu sein. Wie vor ihr die französische und amerikanische musste auch die deutsche Regierung auf gesetzlichem Wege klarstellen, dass Exponate aus dem Taipeher Nationalmuseum Immunität genießen und die Bundesrepublik selbst als Versicherer eintritt. Einer juristischen Aktion der VR China zur Beschlagnahme der Kunstwerke in Deutschland war damit der Boden entzogen.
Aber die chinesische Regierung denkt gar nicht an solche Schritte. Die Botschaft machte anlässlich der jetzigen Ausstellungseröffnung klar, sie habe nichts gegen kulturelle oder wirtschaftliche Aktivitäten taiwanesischer Stellen im Ausland, solange diese unterhalb eines offiziellen Status blieben – schließlich hat Deutschland die „Ein China“-Theorie Pekings bestätigt und schon vor langer Zeit die diplomatischen Beziehungen zu Taipeh abgebrochen. So geschah es. Regierungsvertreter aus Taiwan waren bei der Eröffnung nur im Publikum und später bei einem – nicht offiziellen – Bankett anwesend.
Am schönsten wäre es natürlich gewesen, wenn sich Exponate beider Sammlungen auf deutschem Boden probehalber friedlich vereint hätten – aber auch ohne einen solchen Schritt stellt sich die Palastausstellung im Alten Museum als spektakuläres Ereignis dar. Ursula Toyker-Fuong, die Kuratorin der Ausstellung, war selbst meherere Jahre im Palastmuseum tätig gewesen. Es gelang ihr, den Taiwanesen 400 Exponate für die Ausstellungen in Berlin (und später in veränderter Zusammensetzung) in der Kunsthalle Bonn abzuluchsen. Die taiwanesischen Sachverständigen sollen erbleicht sein, als sie die Wunschliste Toyker-Fuongs sahen.
Die Berliner Ausstellung folgt der dynastischen chinesischen Chronologie von der frühen Shang-Zeit über eine Spanne von fast 4.000 Jahren bis zum Untergang der Ching-Dynastie im Jahr 1911. Sie vereint alle Sparten kaiserlicher Sammlungstätigkeit, also das Reich der Urkunden und seltenen Bücher, das der Gemälde und Kalligrafien und schließlich das der Antiquitäten, die von den ältesten Bronze-Kultgegenständen über die Keramik- und Porzellansammlungen bis hin zum hinreißenden Edelnippes erstrecken. Wie es sich für so erlesene Werke geziemt, ist die Präsentation vom Understatement geprägt. Die angesichts des zum Teil hohen Alters der Bücher, Rollen und Gemälde schwierigen Beleuchtungsprobleme sind für das Publikum zufrieden stellend gelöst. Die Didaktik der erläuternden Texte erschlägt nicht, sondern lädt zur weiteren Beschäftigung ein.
Für eine sinnvolle Annäherung an die Ausstellung ist es nützlich, sich zu vergegenwärtigen, was den Stellenwert der kaiserlichen Sammlungen in der Geschichte Chinas ausmachte und welche – auch politischen – Funktionen sie für die kaiserliche Macht hatte. Am frappierendsten ist die Kontinuität der Sammlungen über die Zeiten hinweg. Erinnern wir uns, dass in Europa erst in der frühen Neuzeit wohl geordnete Sammlungen das Kunterbunt der Wunderkammern abzulösen begann. In China aber wurde schon in der Tang-Periode (vom 7. zum 9. Jahrhundert) inventarisiert, und zur Sung-Zeit entstand 1113 mit der „Halle der Harmonie“ der erste Museumsbau – Eintritt nur für den Hofstaat.
Die Palastsammlungen waren dem Kaiser, dem Himmelssohn, im Rahmen des „himmlischen Mandats“ anvertraut, sie gehörten zu den Zeichen seiner Legitimation. Dies umso mehr, als Kroninsignien samt den ihnen zugeschriebenen magischen Bedeutungen in China unbekannt waren – weshalb auch in den zahlreichen dynastischen und Bürgerkriegen Chinas die rivilisierenden Herrscher danach trachteten, sich in den Besitz der Sammlungen zu setzen, sie wenn möglich sogar zu vermehren. Von den Palastsammlungen gingen die wichtigsten kulturellen Impulse im Reich aus. Vereinheitlichte Schriftzeichen, die Vorbilder der Kalligrafie, der jeweilige Zeitgeschmack in der Malerei und im „Kunstgewerbe“. Diese zentralisierte höfische Kultur stellte Standards auf – d. h., sie verbot auch, schloss Stile und Kunstrichtungen aus. Eine mit der höfischen rivalisierende bürgerliche Kultur (womit nicht die Kultur der konfuzianischen Gelehrten gemeint ist) entstand daher erst in der späten Verfallsphase der Ching-Dynastie.
Der höfisch-konservative Charakter der Palastsammlungen brachte es mit sich, dass die von ihm inspirierte Kunstproduktion sich ständig des Werts „der Alten“ versicherte – dass sie keine Schande darin erblickte, nachzueifern, ja selbst zu kopieren. Aber der Kosmos, der sich uns eröffnet, ist nicht hermetisch in sich geschlossen. Den Landschaftsbildern beispielsweise können wir uns spontan nähern, ohne Kenntnis der Schriftzeichen und der subtilen Ikonografie. Wir begreifen intuitiv die Vielfalt sich ablösender Stile, von der präzisen Naturabschilderung bis zu einer Art abstraktem Expressonismus, der der Kalligrafie näher steht als der realistischen Mimesis. Auch ohne hinreichende Kenntnis der Geschichte wie der in den Dynastien und Ären vorherrschen Stile wird der Besucher sich zu jenen einfachen, wunderbar klaren Formen hingezogen fühlen, die die klassische westliche Moderne des 20. Jahrhunderts begeisterte und deren Schönheit man nicht ohne Grund zeitlos nennt.