Aus dem Leben der Arbeitsagenturen: Vielen fehlt mehr als ein Job
Franziska Hempel ist Arbeitsvermittlerin. Aber was soll sie vermitteln, wenn es keine Jobs gibt? Oder nur für qualifizierte Kräfte. Bei ihr aber sitzen die Unqualifizierten.
Schnell wirft Franziska Hempel noch einen Blick auf den Bildschirm: Unter dem Logo der Bundesagentur für Arbeit tauchen einige Daten über die junge Frau auf, die jetzt hoffentlich draußen wartet. Dann springt die 29-jährige Arbeitsvermittlerin auf. Ihr Büro gehört zur Arge Naumburg, ein moderner Vierstöcker zwischen Bahnhof und Supermarktparkplatz mit einer Bowlingbahn im Erdgeschoss.
Die Berater in den Arbeitsagenturen sollten mehr Zeit bekommen für jeden einzelnen "Kunden". Das war ein erklärtes Ziel der Hartz-IV-Reformen. Wer die Aufgabe hat, unter 25-Jährige zu vermitteln, ist künftig nur noch für 70 Menschen zuständig, so die Vorgabe des Bundesarbeitsministeriums im Jahr 2005. Nach Angaben der Bundesagentur war im vergangenen Frühjahr ein Betreuungsschlüssel von 1 : 90 erreicht.
In manchen Westkommunen mag das zutreffen, doch in der Arge Naumburg hat Franziska Hempel 220 junge Menschen in ihrem Computer. Bei den Erwachsenen sieht es nicht besser aus. Ziel vor drei Jahren war es, dass ein Arge-Mitarbeiter persönlicher Ansprechpartner für 150 "Kunden" sein sollte. Offiziell ist inzwischen eine Quote von 175 erreicht - Manuela Hofmann aber hat 513 Menschen zu betreuen. Nun hoffen alle auf mehr Personal durch das Antirezessionsprogramm der Bundesregierung. AJE
Franziska Hempel trägt hochhackige Sandalen zu praktischen Jeans. Mit wenigen Schritten erreicht sie die Bürotür: "Kommen Sie, Frau S.*." Draußen sitzt eine Frau mit Pferdeschwanz auf einem der himbeerroten Stühle, die in Dreiergruppen den Flur entlang stehen. Zögernd betritt sie den kleinen gelb gestrichenen Raum. An den Wänden hängen Kalenderblätter mit üppigen Dschungellandschaften; von kopierten Zetteln lächeln junge Leute: TUI sucht Animateure für ferne Urlaubsziele.
All das nimmt Carola S.* nicht wahr. Schüchtern hockt sich die 21-Jährige auf einen Stuhl vor Franziska Hempels Schreibtisch. Seit mehreren Jahren lebt sie von Arbeitslosengeld II, im Mai ging die Elternzeit für ihr zweites Kind zu Ende. "Haben Sie einen Krippenplatz gefunden?", will die Arge-Mitarbeiterin wissen. "Nein, alles voll", murmelt Carola S.. Ihre Mutter werde sich tagsüber um den Kleinen kümmern. "Die ist ja auch arbeitslos."
"Sie möchten sich also wieder zur Verfügung stellen?", hakt Franziska Hempel nach. Carola S. nickt und zwirbelt die Träger ihrer Handtasche. Dann nuschelt sie etwas von Hauptschulabschluss und Ausbildung; die Arbeitsvermittlerin versteht das als klare Willenserklärung. "Wir werden Sie bei der Berufsberatung anmelden." Gleich, wenn sie beide hier fertig seien, solle Carola S. das Infopaket unten am Empfang abholen und die Unterlagen möglichst schnell ausfüllen.
Carola S. nickt.
"Sie haben ja noch nie auf dem ersten Arbeitsmarkt gearbeitet. Aber Sie waren ja mal ein halbes Jahr in einer Maßnahme. Was haben Sie denn da gelernt?" Franziska Hempel spricht sehr schnell. Eine knappe Stunde Zeit hat sie, dann sitzt der nächste "Kunde" vor der Tür. Und bis dahin sollte sie möglichst nicht nur alles mit Carola S. ausgehandelt, sondern ihren Fall auch dokumentiert haben.
Carola S. wippt nervös mit dem Fuß. Sie habe damals Wege gefegt, und nun wolle sie putzen.
"Und würden Sie auch Regale einsortieren?", will Franziska Hempel wissen.
"Nein, ich glaub, das kann ich nicht", sagt die 21-Jährige.
"Auch nicht mit Anleitung?"
"Nein, ich möchte erst mal putzen."
"Okay, ich trage also Raumpflege ein, Voll- und Teilzeit, Nebenverdienst und Minijobs." Mit ein paar Klicks hat Franziska Hempel die aktuellen Angebote auf dem Bildschirm. Zügig scrollt sie nach unten. "Es gibt zwar ein paar Stellen in der näheren Umgebung, die infrage kämen - aber dazu brauchen Sie einen Vermittlungsgutschein. Den bekommen Sie frühestens in zwei Monaten", teilt sie bedauernd mit.
Franziska Hempel weiß, dass sie den Menschen oft nichts anbieten kann. Die Arbeitslosigkeit im sachsen-anhaltischen Burgenlandkreis liegt bei 18 Prozent, mehr als zwei Drittel sind Langzeitarbeitslose. Das Schuhkombinat, die Leuchtmittelfirma Narva, die großen Chemiefabriken, die Kinderwagenproduktion in Zeitz - alle großen Arbeitgeber aus DDR-Zeiten sind entweder verschwunden oder auf ein Minimum geschrumpft. 22 neue Jobangebote gab es in Naumburg letzte Woche; gesucht wurden ausschließlich qualifizierte Leute mit Berufserfahrung. Hinzu kommt, dass viele der Arbeitslosen in bis zu 50 Kilometer entfernten Dörfern wohnen - oft ohne Auto und Führerschein. Beides ist häufig die Voraussetzung, überhaupt einen Job annehmen zu können.
Routiniert erklärt Franziska Hempel nun, dass Carola S. verpflichtet sei, selbst nach Stellen zu suchen - innerhalb von zwei Monaten müsse sie mindestens zehn Bemühungen nachweisen. "Brauchen Sie Hilfe für Ihre Bewerbungsunterlagen? In zwei Wochen beginnt ein Kurs." Schließlich kündigt die Vermittlerin an, sie beide würden nun eine Eingliederungsvereinbarung abschließen. Sie belehrt Carola S., dass sie ihren Briefkasten ordentlich beschriften und auf Jobangebote innerhalb von drei Tagen reagieren müsse. Der dreiseitige Vertragstext, den Carola S. wenig später unterschreibt, ist gespickt mit Verweisen auf Gesetzesparagrafen. Schweigend versenkt sie ihn in ihrer Tasche.
"Ich werde Sie in zwei Monaten wieder einladen, dann sehen wir ja, was sich bis dahin ergeben hat", verabschiedet sich Franziska Hempel. Dass bis dahin viel passiert, glaubt sie nicht; wahrscheinlich werde Carola S. sogar vergessen, unten das Berufsbildungspaket abzuholen. "Wenn ich mehr Zeit hätte, wäre ich jetzt direkt mit ihr zum Berufsberater gegangen." Gerade sind in Naumburg wieder zwei Betreuerstellen gestrichen worden.
Franziska Hempel beschließt, die Dokumentation ihres Gesprächs mit Carola S. auf den Nachmittag zu verschieben und lieber schnell noch einen Kursleiter anzurufen. Gestern hatte ein 22-Jähriger behauptet, dass er 10 Euro zusätzlich für Fahrkarten ausgeben musste, weil sein Seminar zweimal außer der Reihe stattgefunden habe. "Unsinn", bestätigt der Dozent Hempels Vermutung - und die Vermittlerin konstatiert befriedigt: "10 Euro gespart."
Kontrolle sei wichtig und notwendig, ist sie überzeugt. Ihre Aufgabe hat sie fest im Blick: Leute unter 25 Jahren - sogenannte Ufüs - auf dem ersten Arbeitsmarkt unterzubringen. Doch das ist äußerst schwierig: Den meisten ihrer "Kunden" fehlt weitaus mehr als nur ein Job. "Viele sind Opfer ihrer Umstände. Kein Hauptschulabschluss, Schulden, Sucht, null Bock - das gibt es hier häufig", fasst Franziska Hempel zusammen. Wer zur ihr kommt, lebt meist bei seinen langzeitarbeitslosen Eltern und hat aufgrund der gesetzlichen Regelung auch keine Chance auszuziehen.
Geboren um die Wendezeit erlebten sie als Kinder eine zutiefst verunsicherte Elterngeneration, die sich mit einer zusammengebrochenen Wirtschaft konfrontiert sah. Viele Mütter und Väter, die nicht den Mut oder die Möglichkeit hatten, anderswo einen Neuanfang zu wagen, hangelten sich von Maßnahme zu Maßnahme, unterbrochen von Phasen der Arbeitslosigkeit - ohne Perspektive. Auch die Lehrer waren von der Situation überfordert, und meist gab es niemanden, der sich jemals wirklich um diese Jugendlichen gekümmert hätte.
Franziska Hempel ärgert sich, dass sie nun nachholen soll, was in den 20 Jahren davor versäumt wurde. Eine entsprechende Ausbildung hat sie als Diplomkauffrau nicht, und wie sie zum Beispiel erkennen kann, dass jemand Drogen nimmt, musste sie irgendwie selbst herausfinden. "Früher war für die meisten das Sozialamt zuständig. Heute aber kommt nach uns nichts mehr."
Inzwischen sitzt Frank Z.* bei Franziska Hempel. Immerhin, er hat eine Lehrstelle gefunden. Doch er sieht nicht ein, dass er von seinen mageren 225 Euro Azubigehalt auch noch die Unterkunft während des Blockunterrichts in der Berufsschule bezahlen muss. Weil er noch bei seinen Eltern wohnt, hat die Arge es außerdem abgelehnt, die Fahrtkosten dorthin zu erstatten. "So steht es im Gesetz, tut mir leid", sagt Hempel, nachdem sie noch einmal bei einer Kollegin nachgefragt hat. Sie rät Frank Z., erst einmal herauszufinden, wie hoch die Internatskosten denn überhaupt sind. Doch als sie entdeckt, dass der Brief mit der Telefonnummer seit einem Monat bei dem jungen Mann rumgelegen haben muss, erledigt sie den Anruf dann doch für ihn.
"Wenn ich jemandem helfen kann, dann finde ich meinen Beruf gut. Dann macht er richtig Spaß", sagt Franziska Hempel. Vor Kurzem habe zum Beispiel eine junge Frau ihren Hauptschulabschluss nachgeholt und gleich danach eine Ausbildungsstelle als Verkäuferin gefunden. "Ohne Druck hätte die das aber nie hingekriegt", ist Franziska Hempel überzeugt. In ihrem Instrumentenkasten zur "Aktivierung" hat sie vor allem finanzielle Werkzeuge: Wer ohne dringenden Grund nicht zur verabredeten Zeit in der Arge auftaucht, bekommt drei Monate lang 10 Prozent weniger Arbeitslosengeld II. Wer mehrmals bei einer Maßnahme fehlt oder Jobangebote ausschlägt, muss sogar mit einer bis zu hundertprozentigen Kürzung rechnen.
Die Erfahrungen der letzten Jahre haben Franziska Hempel verändert. Als sie anfing, wunderte sie sich über die negativen Prognosen vieler Kollegen - heute teilt sie sie. Doch Franziska Hempel wehrt sich, fatalistisch zu werden oder dem Gefühl der Vergeblichkeit einen zu großen Platz einzuräumen.
Als sie nach knapp zehn Stunden ihr Büro verlässt, ist dennoch einiges liegen geblieben. Sie hat wieder nicht die Zeit gefunden, die Datenbank systematisch nach Arbeitsangeboten zu durchforsten. Und auch das ruhige Gespräch mit einem Maßnahmenträger muss bis zum nächsten Tag warten.
Spätestens morgen um sieben Uhr wird sie erneut den langen Gang mit den himbeerroten Stuhlreihen entlangeilen und ihr Büro mit den Dschungelfotos aufschließen. Nach vielen Zeitverträgen in verschiedenen Abteilungen der Bundesagentur für Arbeit hat sie nun seit letztem Jahr endlich eine feste Stelle.
* Namen von der Redaktion geändert
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