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Aus dem Jenseits

Zeitsprung, Tod und Déjà vu – zur Phänomenologie der Fernsehsendung „Sesamstraße“  ■ Von Christian Meurer

Allseits und zu Recht beklagt wurde kürzlich der Tod von „Ernies Stimme“ – des Schauspielers Gerd Duwner. Sein Ableben unterstreicht einmal mehr den „Sesamstraßen“-Gesamtzustand: Die Sendung ist reichlich in die Jahre gekommen und wird allmählich zu einem Mausoleum eigener Art.

Trotz einigem neueren Elektronik-Schnickschnack strahlt das Sesam-Innenleben ungefähr soviel Beseeltheit aus wie ein kameraüberwachter U-Bahnhof – ein im Lauf von 25 Jahren gigantisch angewachsener Haufen von Abspulmaterial, der zu immer neuen „Folgen“ zusammengemixt wird. Wobei sich Grenzen zwischen gestern und heute, Leben und Tod immer mehr verwischen. Knut Kiesewetters Erkennungsmelodie wurde immerhin vor kurzem generalüberholt; bis dahin war des öfteren noch die Erstversion mit inzwischen vermutlich über 30jährigen Kindern zu sehen.

Seit einigen Jahren hat man Bärenwallach Samson und Federvieh Tiffy den Fahrradhändler Schorsch (Gernot Endemann, der Jüngste aus den „Unverbesserlichen“) und einige gruppendynamisch schwer einzuordnende Frauenspersonen beigesellt. Dies hausbackene, ortlos und fast handlungsfrei agierende Kränzchen ist schon die zirka fünfte Generation von Samson-Weggefährten. Dank seltsamer Wiederholungsbräuche tauchen auch die Vorgänger immer wieder auf.

Zurück in die 80er – Samson & Tiffy sahen kommen und wieder gehen: den im Westen schon recht gut Fuß fassenden Manfred Krug, den noch kräftig vom „Bastian“- Nachruhm zehrenden Horst Janson, den damals frischgebackenen „Lach- und Schieß“-Zweitligisten Henning Venske, den noch vage jugendlichen Uwe Friedrichsen. Mit allen zusammen eine Lilo Pulver, die vom baldigen Tod von Mann und Tochter noch nicht das geringste ahnt. Geschweige denn den nahen Tod des ersten Darstellers im Samson-Pelz.

Die Überreste der US-Originalserie im Programm machen das Ganze vollständig zur Zeitmaschine: Bei frühen Muppet- Sketchen mit Ernie, Bert und Krümelmonster unterhalten sich seit Duwners Tod nun endgültig drei Stimmen aus dem Jenseits – Berts erste Synchronstimme, der zeitweilige Vietcong-Sympathisant und DDR-Fan Wolfgang Kieling, und der erste Monster-Sprecher Alexander Welbat sind Duwner schon vor Jahren vorangegangen. Kommt aber ein paar Minuten danach ein neuerer Sketch, dann hört man Duwner sich mit Berts und Krümelmonsters zum Teil noch lebenden Zweitstimmen ins Benehmen setzen. Im Falle Berts mit allerlei ambulantem Personal, weil sich für Kieling noch kein ganz zufriedenstellender Ersatz fand; im Falle Krümelmonsters mit Edgar Ott, der sich auch als Stimme von Hörspielkassetten-Elefant „Benjamin Blümchen“ und „Kojak“ Telly Savalas betätigte. Kurz nach Savalas' Tod verschied auch er.

Desgleichen verstorben ist Gottfried Kramer, der als Griesgram Oskar so unnachahmlich heiser aus der Mülltonne ranzte. Oskar selbst hat man offenbar geklont; ein plumper Abklatsch namens Rumpel lungert schon seit geraumer Zeit in Samsons Rahmenhandlung herum.

Ganz selten wird man auch noch eines menschlichen Bewohners der US-„Sesame Street“ ansichtig. Bisweilen eröffnet Bob (Schauspieler Bob McGrath) als Vorleser ein Muppet-Märchen. Beziehungsweise der Bob von ca. 1971 tut dies, während draußen Nixon regiert und vietnamdemonstriert wird. Oder der schwarze Gordon (Matt Robinson) legt das Krümelmonster herein – noch mit voller Afro-Frisur, die er – wie Ende der 80er auch mal ausgestrahlte Sesam-Weihnachtssendungen zeigten – längst zugunsten einer Vollglatze eingebüßt hat. Inzwischen darf Robinson, im Gegensatz zu Bob, in der US-Serie nicht mehr mittun.

Mit beiden entschwunden sind längst auch die Nebenwirkungen für ihre noch springlebendigen deutschen Stimmen: Lutz Mackensy, für den sich der Bob-Job mit einer jahrelangen Karriere als gefragteste männliche Stimme für Radio- und TV-Werbung bezahlt machte.

Und Volker Lechtenbrink, den wohl wesentlich seine Mitarbeit als Gordon auf die Idee brachte, sich ein paar Jahre lang als Sänger und deutscher Texter amerikanischer Country & Western-Musik zu versuchen. Was aber zum Glück auch schon wieder lange zurückliegt. Sogar sehr, sehr lange...

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