Aus dem Alltag einer Stützlehrerin: Unendliches Nichtwissen
"Gebt Geld, viel Geld für Kindergärten und Ganztagsschulen!", sagt Marianne Rubach. Sie unterrichtet seit Jahren Jugendliche aus sozial schwachen Familien.
Marianne Rubach lebt am Paul-Lincke-Ufer in Kreuzberg. Sie bewohnt zwei große, übereinanderliegende und mit einer hölzernen Wendeltreppe verbundene Räume, mit Blick auf ihr kleines Gärtchen und den Hinterhof. Im unteren Raum, der mit einigen schönen Möbeln, Büchern und Bildern locker eingerichtet ist, den zwei gusseiserne Säulen gliedern, der zugleich Wohnzimmer, Esszimmer und offene Küche ist, nehmen wir Platz am Esstisch. Er ist gedeckt. "Ich dachte mir, dass Sie noch nicht gefrühstückt haben", sagt Frau Rubach mit einladender Geste. Auf die Frage nach den ungewöhnlichen Säulen erklärt sie:
"Das war ehemals der Bauhof für die Luisenstadt, ungefähr bis 1920 lagen hier die ganzen Baumaterialien, die man dann per Schiff auf dem Landwehrkanal zur Luisenstadt brachte. Deshalb haben wir auch sehr stabile und tragfähige Decken und Böden im Haus. Später waren hier kleine Fabriken drin und eine Frauen-Badeanstalt, zuletzt eine Kfz-Werkstatt. Ja, und was mich nun betrifft und meine Arbeit als Lehrerin, ich habe 1981 damit angefangen, weil ich mehr Geld verdienen wollte, denn als Übersetzerin wurde das immer schlechter nach der Wende.
Bis 1995 habe ich noch nebenher übersetzt, meine letzte Übersetzung war übrigens eine Fidel-Castro-Biografie - er trat ja unlängst grade in den Ruhestand. Ich dachte damals, wenn ich es geschafft habe, einigen Autoren ein besseres Deutsch beizubringen, dann kann ich das ja auch bei jungen Menschen machen. Damals gab es ein Programm, das nannte sich ,Maßnahmen zur sozialen und beruflichen Eingliederung'. Es war eine Folge des Lummer-Erlasses, der ja eine Verschärfung der Aufenthaltsbedingungen für Ausländer mit sich brachte. Türkische Kinder durften im Rahmen der Familienzusammenführung nur noch bis zum 16. Lebensjahr nach Deutschland nachgeholt werden. Die lebten bei ihren Großeltern oder Tanten, und die Eltern hatten damals ja noch vor, irgendwann zurückzugehen. Jedenfalls mussten sie ihre Kinder vor dem 16. Lebensjahr von heute auf morgen holen. Und die kamen natürlich ohne Deutschkenntnisse, ohne Berufsausbildung, wurden mitten aus ihrem vertrauten Leben herausgerissen. Für Mädchen gabs damals in der Türkei nur eine fünfjährige Schulpflicht, für Jungs etwas länger. Und die lernten nun bei uns - damals waren es nur zwölf Monate, heute sind es drei Jahre -, sich hier zurechtzufinden. Sie lernten Deutsch, wurden durch die Werkstätten geschleust, alle 14 Tage durften wir Exkursionen machen, ins Museum, zur Verbraucherzentrale, zu Pro-Familia und Ähnlichem. Sie haben sehr schnell gelernt.
Religion spielte damals überhaupt keine öffentliche Rolle. Nur zum Ramadan. Die Mädchen hatten keine Kopftücher auf, allenfalls mal so ein anatolisches, bäuerlich gebundenes. Sie waren sehr offen. Aufklärung war für die Mädchen sehr wichtig. Die Eltern witterten natürlich überall Gefahr für ihre Töchter. Ich hatte immer das Gefühl, die haben nichts zu verlieren außer ihren Ketten. Ich habe versucht, viele Verbote zu umgehen. Sie sagten: ,Hodscha' - das ist eine höfliche Anrede für Lehrer -, ,wir wollen auch schwimmen lernen!' Sie besorgten sich heimlich Bikinis und versteckten sie im Spind. Beim Üben hätten sie mich fast unter Wasser gerissen. Aber sie haben auch das Schwimmen schnell gelernt. Sie haben alle stolz ihre Freischwimmerprüfung abgelegt.
Mit den Jungs kam ich nicht ganz so gut klar. Sie hatten Probleme damit, dass eine Frau ihnen was zu sagen hat. Das musste ich damals erst lernen, dass man ihnen gegenüber seine soziale Stellung betonen muss, sie aufbauen muss und klarmachen: Ich bin der Lehrer, ich habe studiert. Und was bist du? Man muss die Hierarchie herstellen, auf die Rangordnung pochen, dann hören sie. Mir fiel das schwer, aber unser türkischer Sozialarbeiter sagte, es geht nicht anders. Dennoch war vieles einfacher als heute. Auch ökonomisch. Wir bekamen noch sehr viel Geld von den Arbeitsämtern. Und wir waren noch nicht gezwungen - also wir, das ist jetzt immer der Träger -, solche Dumpingpreise zu machen wie heute. Damals gab es noch keine Ausschreibungspraxis. Heute werden ja alle diese Maßnahmen ausgeschrieben, einmal im Jahr, vom Arbeitsamt beziehungsweise ,Jobcenter', das sie ja finanziert.
Also die werden ausgeschrieben, wie der Bau eines Autobahnabschnitts. Sie geben eine Leistungsbeschreibung raus, von 30, 40 Seiten, darauf dürfen wir dann mit 80, 100 Seiten antworten, ein Konzept, ein Angebot machen und einen Preis nennen. Und das wird dann verglichen mit dem der anderen Träger, besonders natürlich der Preis. Solche Träger sind ja wie Pilze aus dem Boden geschossen. Das war eben früher nicht so. Und durch diese unheilvolle Ausschreibungspraxis fing dann dieses ,Rattenrennen' um die Preise erst richtig an. Das Schreckliche ist - und auch das Verwerfliche -, das muss ich einfach sagen: Da wird enorm viel Geld verschleudert. Die Arbeitsämter müssen natürlich schauen, wo ist jetzt noch Bedarf, in welchem Beruf? Aber das müsste ja alles langfristig passieren.
Jetzt hat man als Träger zum Beispiel in eine Tischlerwerkstatt für viel Geld investiert, für die außerbetriebliche Ausbildung der Jugendlichen, so was kostet leicht 100.000 Euro und mehr. Und nach drei Jahren stellt das Arbeitsamt fest und beschließt: Tischler werden nicht mehr gebraucht! Jetzt ist da aber die Werkstatt, es existieren Tischlermeister, denn es müssen natürlich Meister sein für die Ausbildung, wir haben Sozialarbeiter vorgehalten und Stützlehrer wie mich. Also teures Personal auch noch. Und plötzlich wird die Maßnahme nicht mehr ausgeschrieben. Wir müssen die Werkstatt schließen, weil plötzlich, aus oft unerforschlichen Gründen, nun Floristinnen ausgebildet werden sollen oder Kosmetiker. Der Tischlermeister muss gehen. Wenn das ältere Kollegen sind, müssen die Kündigungsfristen berücksichtigt werden - ich bin im Betriebsrat seit zehn Jahren, ich weiß also, wovon ich spreche. Mal heißt es, wir müssen sonderpädagogisch geschultes Personal einstellen - also teure Lehrkräfte mit Zusatzstudium -, die stellen wir ein für ein Jahr, und in der nächsten Ausschreibung heißt es: Lehrer kann jeder sein. Dann ist dieser Mensch wieder weg.
Und das übt einen unheimlichen Druck auf das Personal aus. Und bei anderen Trägern, die nicht so viel - sagen wir mal: Querfinanzierung machen können -, denn das können sie nicht, da sieht es dann finster aus. Es gibt Träger, die ihren Sozialarbeitern 1.300 Euro brutto zahlen, ihren Lehrern 1.500 brutto, ihren Ausbildern 1.400 brutto. Das werden alles Armutsrentner. Klar! Im letzten Jahr hat die Bundesagentur 9 Milliarden Euro gespart. Deshalb haben wir ja die Arbeitslosenversicherung absenken dürfen, nicht? So hat jeder 3 Euro mehr in der Tasche bis auf die, die weniger in der Tasche haben. Das wird ja auch an den Jugendlichen gespart und natürlich an unserem Geld. Aber es geht nicht nur ums Geld, es geht auch um die Verschwendung menschlicher Qualitäten. Denn woher soll denn das soziale Engagement, das Einfühlen nachher kommen, wenn 30 Prozent der Leute an dem Betrieb und allem überhaupt kein Interesse mehr haben, weil sie Teilzeit arbeiten oder weil sie wissen, in einem Jahr gehe ich wieder. Oder spätestens in zwei Jahren, wo ich die Jugendlichen ja eigentlich drei Jahre begleiten sollte, wenn sie in der Berufsausbildung sind, eine Kontinuität herstellen sollte, auch als positives Vorbild engagiert arbeiten soll - wie könnte das gehen, unter diesen Voraussetzungen?!
Aber es ist ja überall dasselbe. Überall, wo das Soziale auf Profit ausgerichtet wird, da werden die Dinge scheitern, da werden sie keine Erfolge mehr haben. Ich frage Sie, wie soll man das in den Griff kriegen? Wir haben eine ungeheure Verwahrlosung und Verrohung, ein ungeheures Maß an Nichtwissen, wie soll man das in den Griff kriegen? Ich sage immer: Geld! Geld! Geld! Ihr könnt die Probleme nicht lösen mit Druck, das geht nicht.
Wir kriegen ja den unteren Bodensatz - ich sage das einfach mal so brutal - von Jugendlichen. Jedes Jahr gehen 80.000 bis 100.000 Jugendliche ohne Schulabschluss von den allgemeinbildenden Schulen ab. Und ich frage mich wirklich, wenn solche Jugendlichen zu mir kommen, wo waren die in den vergangenen zehn Jahren? Aber ich kann ja dem einzelnen Jugendlichen keinen Vorwurf machen. Sie haben in viel zu großen Klassen herumgesessen, haben keinerlei individuelle Förderung erfahren. Das geht einfach nicht an deutschen Schulen, das gibt es nicht, es gibt keine Binnendifferenzierung an deutschen Schulen. Viele Schüler haben eines Tages den Anschluss, die Lust am Lernen verloren und nie mehr zugehört. Das ist logischerweise, wenn sie dann, als junge Erwachsene quasi, vor mir sitzen, oft ein bisschen schwierig."
Wir bitten sie, uns Gebäude und Unterricht etwas genauer zu schildern. "Ja also, das sind richtige Industriebauten in Neukölln - Gewerberäume gibt es ja genug in Berlin -, lange Gänge, duster, wenig Licht. Eine frühere Fabrik eben. Wir haben Theorieräume, und wir haben Werkstätten. Und wenn ich morgens reinkomme in ein Klassenzimmer, dann sitzen sie da, Kopf auf dem Tisch oder so, Jacken liegen rum, Essen auf dem Tisch, alle sind unwillig bis dort hinaus. Dann sage ich erst mal: Radio aus, Ohrhörer raus, Tasche vom Tisch, Essen vom Tisch, Jacken aufgehängt und natürlich Handys abgestellt, sonst werden sie eingezogen. Das machen sie dann brummend, es findet auch so eine Art Selbstkontrolle statt: Nu lass mal, das nervt! Und ich frage dann als Nächstes, wie gehts, ob es irgendwelche Probleme gibt, dann fangen wir an.
Wir haben Unterrichtsblöcke. Theorieunterricht 90 Minuten. Nach 20 Minuten können sie sich schon nicht mehr konzentrieren. Es sind auch stark lernbehinderte Jugendliche dabei, die eigentlich schon einen Reha-Status hätten. Aber, und das ist interessant, alle werden im Laufe der Jahre immer leistungsfähiger, geistig und körperlich. Die Gruppe ist ziemlich homogen in der Regel in ihrem niedrigen Niveau. Man muss den Unterricht also ein bisschen ,sesamstraßenartig' machen, damit sie nicht zurückschaudern. Wenn ich einen Hauptschulabschluss mache, dann sitzen da 16 bis 20 Jungs und Mädels, zwischen 17 und 18 Jahren meist, mit und ohne Migrationshintergrund. Die Deutschstämmigen sind bei uns übrigens in der Überzahl. Das überrascht manche Leute, die denken, es ist vor allem ein ethnisches Problem. Es ist ein soziales Problem.
Die Grundlage bei den deutschen, türkischen, arabischen, kroatischen und sonstigen Jugendlichen, die ist vollkommen identisch, teils lallende oder vor dem RTL einschlafende Eltern und die Jugendlichen voll gestopft mit irgendwelchen Vorurteilen. Sie sind antisemitisch, antiarabisch, homophob, sexistisch. Ihr Nichtwissen ist unendlich! Das ist das, was mich immer so frappiert. Also wann war der Zweite Weltkrieg? Nichts. Wenn mans erklärt, das nächste Mal haben sie es wieder vergessen. Oder sie fragen, wann war der Zweite Weltkrieg? Ich bleibe ganz ruhig. Nie lachen. Niemand darf lachen in so einer Situation, da wäre ich ja ein ganz schlechter Lehrer. Ich erkläre es ihnen. Wobei ich die Jugendlichen nicht duze. Es lässt sich, nebenbei bemerkt, auch besser schimpfen, wenn man ,Sie' sagt. Ein Problem ist auch, dass sie nicht lesen. Die haben noch nie ein Buch in der Hand gehabt. Die lehnen das ab. ,Wäh ein Buch!'
Ich mache eine Unterrichtseinheit, die zieht sich durch und nennt sich in der Fachsprache: Lesen - Verstehen - Zusammenfassen. Das können Zeitungsartikel sein, Texte aus Büchern, Lehrbüchern oder didaktische Texte. Schon beim Lesen merke ich, dass die Leute nicht richtig lesen können. Laut vorlesen geht nicht. Sie genieren sich, holpern, lesen falsch vor, Fremdwörter sind ganz schwer vorzulesen. Englisch geht manchmal. Oder die Zeile rutscht ihnen weg. Die lesen ja noch mit dem Finger. Also wir üben viel das Lesen, und irgendwann werden sie ruhig, ganz relaxed und hören zu. Mit denen, die etwas weiter sind, lese ich jetzt von Horvath ,Jugend ohne Gott'. Sie lesen es gern und lachen. Aber zurück. Der nächste Schritt ist, mit dem Marker unbekannte Wörter zu unterstreichen, sie verstehen zu lernen.
Also der ist oft sehr überraschend, ihr Wortschatz. Beispielsweise ,unlauter' kennen sie nicht, ,unlauterer Wettbewerb' nie gehört. Oder ,Korrespondenz', nichts. Und die sollen ja lernen für einen Büroberuf! In einem Zeitungsartikel kam das Wort ,Putsch' vor, es war unbekannt. Ebenso das Wort ,wohlhabend', das zweite H wurde überlesen, es kam ,wohlabend' heraus. Oder ,hymnisch', ich fragte: Was ist denn eine ,Hymne'? Antwort: ein ganz wildes Tier. Ich habs dann anhand der Fußballweltmeisterschaft erklärt, am Singen der Nationalhymne. Da haben sie sich erinnert. Am nächsten Tag schenkten sie mir ein aus dem Internet heruntergeladenes Bild einer Hyäne, dafür liebe ich sie. Und ich liebe sie, weil ich täglich mit ihnen zu tun habe, weil mir ihre Defizite liebenswürdig, weil erklärlich erscheinen.
Und wieder zurück: dann schriftlich das Gelesene zusammenfassen, der dritte Schritt. Es ist oft so, dass sie noch nach einem Jahr nicht in der Lage sind, nur das Wichtigste zusammenzufassen. Sie können nicht unterscheiden, verzetteln sich im Unwichtigen. Ich sage immer, sie würden sich der Sache am schnellsten nähern, wenn sie alle Beschreibungen weglassen und nur das nackte Gerüst betrachten, um einen Extrakt zu machen. Denn sie sollen ja lernen quasi, wie man lernt, sich durch einen Text zu arbeiten oder durch ein Fachbuch. Das muss man üben, üben, üben, das ist das A und O!
Es ist erstaunlich, dass wir dennoch Leute nach drei Jahren zur Gesellenprüfung bringen. Am Anfang denkt man, man schafft das nie. Auch weil so viele Fähigkeiten fehlen. Ich bin eigentlich jedes Mal erschrocken. Ich bringe zum Beispiel alte Illustrierte mit. Sie sollen Bilder ausschneiden und mit den Bildern eine Bildergeschichte zu komponieren versuchen, aus sechs Elementen, sie dann beschreiben und so weiter. So. Wenn ich schon sehe, wie die schneiden! Da mussten sie erst mal eine Stunde lang lernen: Gebrauch einer Schere. Sie halten sie falsch, schneiden unsauber. Also die Geschicklichkeit im Umgang mit solchen Dingen ist gar nicht ausgebildet. Ein Lineal so festhalten, dass es nicht verrutscht, wenn man einen Strich macht, das muss eben geübt werden. Beim Schreiben auf den Linien bleiben und einen Rand lassen, das muss geübt werden. Also würde man bei solchen Kindern bereits im vierten, fünften Lebensjahr anfangen mit der Förderung, dann hätten sie diese enormen Defizite später nicht! Man weiß aus der Forschung, bei Neun- bis Zehnjährigen sind die Fenster eigentlich schon zu. Und uns bleibt nichts anderes übrig, als diese Jugendlichen dennoch zu einem bestimmten Ziel zu bringen, damit sie vielleicht mal eine Arbeit bekommen und dabei dann auch bestehen können.
Und es fehlen ja nicht nur schulische Kenntnisse, es fehlen auch ganz alltägliche Umgangsformen. Sie müssen sich ja präsentieren lernen. Wir üben mit ihnen zum Beispiel das Telefonierern. Wir haben Holztelefone und üben, wie stelle ich mich vor. Das braucht man fürs Büro, auch fürs Callcenter, oder viele landen in der Telefonzentrale. Ich muss aber auch wissen, wie rufe ich ein Wohnungsamt an, wie setze ich mich höflich durch, werde nicht gleich wütend und knalle den Hörer auf?! Und ich sage nicht: ,Hier ist Frau Hermann', sondern ich sage nur: ,Hermann, guten Tag'. Wir üben auch am Telefon zu ,lächeln', damit das freundlich rüberkommt. Und wir haben die sehr teuren elektronischen Kassen angeschafft, damit sie lernen, wie man die bedient. Eine Verkäuferin muss vielleicht nicht so perfekt schreiben können, aber sie sollte Gebrauchsanweisungen lesen können, auch eine Telefonnotiz machen können.
Was auch noch ganz wichtig ist, ist sprechen üben. Das ist ganz karg. Man ,macht', man ,tut', daneben gibts keine anderen Verben. Ein Satz wird nie zu Ende gesprochen, er läuft immer auf ein ,und so' hinaus. Also: ,Letztes Jahr war ich schwimmen am Gardasee und so ' Oder sie benutzen eine falsche Vergangenheitsform, ,ich war gewesen'. Und ich möchte auch auf keinen Fall, dass jemand jeden Satz mit einem ,Ey' anfängt, es ist außerdem sehr unhöflich. Überhaupt sind die Höflichkeitsformen kaum entwickelt, beziehungsweise sie haben eigene, besonders die männlichen Jugendlichen.
Zum Beispiel ,Respekt'. Respekt heißt, dass man den anderen nicht komisch ,anmacht' oder anguckt. Also in die Augen gucken, das kann manchmal unangenehm ausgehen, da werden sie richtig aggressiv, auch gegen Frauen. Die Mädchen kann man jederzeit angucken, die haben damit kein Problem. Aber die Knaben empfinden es als respektlos. Nun folgende Situation: Wenn ich einen Jugendlichen frage, wieso haben Sie da eben auf den Boden gespuckt? Beim nächsten Mal wischen Sie das auf! Dann kann es passieren, dass er sagt: ,Ey, Respekt Alte!' Ich sage: ,Warum spucken Sie vor mir aus, wissen Sie nicht, dass das eine große Respektlosigkeit ist?' Das begreifen sie nicht. Sie spucken einfach gedankenlos und gewohnheitsmäßig auf den Boden.
Aber es gibt auch absichtliche Äußerungen. Viele Türken machen zum Beispiel so ein bestimmtes Geräusch, sie ziehen die Spucke saugend durch die Zähne. Das ist ein Zeichen der Verachtung und auch sehr respektlos. Untereinander sind sie oft sehr intolerant. Konflikte entstehen aus nichtigem Anlass, etwa bei einem Wortwechsel wie diesem: ,Was hastn du heut an?!' - ,Ey, hier, teuer genug!' - ,Ey, sieht Scheiße aus!' Und schon geht eine Schlägerei los. Mädchen streiten in der Regel verbal, werfen höchstens mal was auf den Boden. In all den Jahren an der Schule habe ich noch nie Gewalt zwischen Mädchen erlebt. Gut, die reden auch schon mal böse übereinander, sagen über eine Mitschülerin zum Beispiel: Das ist eine ,Sozialschlampe'. Damit ist gemeint, das ist eine, die Kinder kriegt, um das Kindergeld zu kassieren. Ich versuche halt viel zu diskutieren, um eine Diskussionskultur einzuführen, damit sie lernen, einen Konflikt mit Argumenten auszutragen.
Aber es gibt zu diesen Problemen, Mangel an Wissen, Mangel an Disziplin, leider auch noch andere Probleme bei den Jugendlichen. Das Arbeitsamt hat dafür die Bezeichnung ,multiple Vermittlungsprobleme'. Wir haben zum Beispiel Jugendliche mit Adipositas, sie haben bereits Diabetes. Das sind richtige Kawenzmänner. Wir haben derart dicke Jugendliche, die können wir so gar nicht in irgendein Praktikum bringen, da sagt jeder Arbeitgeber sofort ab. Unter ,multiple Vermittlungsprobleme' fallen körperliche und seelische Leiden, also ob Spina bifida, lernbehindert, Heimkind oder furchtbar geschlagenes Kind, die werden alle in einen Topf geworfen. Und die psychische Behinderung hat oft zur Folge, dass sie so unter Medikamenten stehen, dass man das Gefühl hat, einem Maskenmenschen gegenüberzusitzen. So sehr sind sie sediert. Oder sie sind schwer depressiv, hängen nur rum und schauen elegisch aus dem Fenster.
Es gibt eigentlich keine glücklichen Jugendlichen mehr - jedenfalls nicht in dieser Schicht der sozial Schwachen. Und das ist es, was mich so traurig macht, die haben keine Lebenslust. Sind depressiv und ohne Perspektive. ,Warum, Frau Rubach, soll ich das denn machen?!', fragen sie mich, und ich sage diesen Spruch: ,Du hast keine Chance, aber nutze sie.' Und ich sage: ,Machs für dich!' Aber ich empfinde das natürlich als enormes Problem, dass sich weit und breit niemand findet in der Politik, der diesen Jugendlichen sagt, dass man sie nicht braucht."
Hier möchten wir eine uns besonders wichtige Frage stellen. Seit längerer Zeit schon fiel uns auf, dass in der Rapperszene und besonders in der Jugendsprache das Wort "Opfer" eine große Rolle spielt. Aber nicht in seiner üblichen Bedeutung, sondern als Beschimpfung und Denunziation. Was hat es damit auf sich? "Also, als ich bemerkt habe, dass das ein Schimpfwort ist", sagt Frau Rubach, "das ist so etwa eineinhalb Jahre her, da war ich sehr befremdet. Es war im Deutschunterricht, wir haben einen literarischen Text bearbeitet, ich sagte, eine Textstelle interpretierend: ,Er hat ein Opfer gebracht, er hat sich aufgeopfert ' Da fing die ganze Gruppe an zu brüllen vor Lachen. Ich sage: ,Leute, was ist plötzlich mit Ihnen los? Warum lachen Sie bei dem Wort Opfer?'
Sie erklärten, dass es ein schlimmes Schimpfwort ist für sie, eine Beleidigung. Also wenn zu einem gesagt wird: ,Du, Opfer, du!', dann zuckt der zusammen, oder er sagt: ,Respekt, ey!! Nicht ich bin ein Opfer, du bist ein Opfer!' Also ich war vollkommen perplex.
Ich sagte: ,Ein Opfer erleidet doch immer etwas, wie kann das plötzlich zum Schimpfwort werden?' Und ich habe gesagt: ,Wir alle hier sind Opfer. Sie sind Opfer dieser Politik, und auch ich bin ein Opfer dieser Politik.' Ich versuche immer, sie zu politisieren, selbstbewusster zu machen, in die Gewerkschaften zu bringen. Sie begreifen zwar, was ich meine, benutzen das Schimpfwort aber weiterhin. Ich habe natürlich auch mit Kollegen gesprochen, denen ist das auch aufgefallen. Die meinten, es hängt vielleicht mit diesem ,Happy Slapping' zusammen (engl. glückliches Schlagen: Andere Jugendliche oder auch unbekannte Passanten werden als Opfer ausgespäht und überfallartig ins Gesicht geschlagen, getreten, gedemütigt und gequält. Wobei der einzige Zweck dieser Tat - die als Heldentat gilt - darin besteht, sie mit dem Handy zu filmen. Das Video wird dann im Internet zur Schau gestellt bzw. über die Infrarotstelle von Handy zu Handy weitergegeben und getauscht, wie ehemals die Sammelbildchen. Anm. G. G.). Vielleicht kommt es daher, es soll ja an vielen Schulen aufgetaucht sein.
Also bei uns an der Schule jedenfalls gibt es das nicht. Die Hausordnung hat strenge Regeln. Sobald wir etwas bemerken, wird sofort die Polizei gerufen. Bisher war es nicht nötig. Ich glaube, das Wort ,Opfer' nimmt langsam auch wieder eine andere Richtung an, im Sinne von: ,Ey, Opfer, was läuft?' Also es wird liebevoller, wenn sie sich gegenseitig ,Opfer' nennen, weil sie sich nicht mehr an den Kragen gehen. Die Bandbreite ist inzwischen schon da, es meint auch, wir tun uns zusammen, wir Opfer. Ja, wir Opfer! Das habe ich beobachtet.
Und das sind sie ja als Kinder von sozial Schwachen. 50 Prozent der türkischen Väter unserer Jugendlichen sind arbeitslos! Unfreiwillig! Für Jahre! Und die prügeln ihre Söhne, ihre Töchter. Sie können sich nicht mehr anders Respekt verschaffen, haben keine Autorität mehr als Familienoberhaupt. Und da kommt diese Gewalt auch her, aus der Erziehung mit Schlägen." (Die Gewalt hatte auch bei uns eine überraschend lange Tradition, das Züchtigungsrecht der Eltern wurde in Deutschland erst im Jahr 2000 gesetzlich abgeschafft. Anm. G. G.) "Allerdings, darauf lege ich sehr großen Wert auf diese Feststellung: Jugendgewalt ist kein ethnisches Problem. Das wird gerne so dargestellt. Es ist aber falsch, wenn man sie auf einen Migrationshintergrund fokussiert. In Neukölln zum Beispiel wohnen so viele arme Deutsche, also deutschstämmige Leute. Es hat nichts mit der Herkunft zu tun, sondern mit der sozialen Lage. Das ist eine Schicht. Subproleten. Verarmte ehemalige Arbeiterklasse oder abgesunkener verarmter Mittelstand. In all diesen Haushalten herrscht Gewalt, Reduziertheit, Resignation. Sie alle werden ja auch systematisch ausgeschlossen, immer mehr, und natürlich auch vom Genuss der Bildungsgüter. Schlimm ist die institutionelle Gewalt an den Jugendlichen. Das ist ein Skandal! Und es ist ein Skandal, dass niemand unser Bildungssystem wirklich kritisiert und sagt, dass es keine Bildung herstellt. Nicht mal für Gymnasiasten, denn die ist auch schon grottenschlecht. Aber wie verheerend sich dieser Zustand erst auf benachteiligte Kinder auswirkt, ist klar.
Und da kommen wir zum nächsten Punkt, der mir der wichtigste ist. Gebt Geld, viel Geld für Kindergärten und Ganztagsschulen! Alle Kinder sollen spätestens ab dem vierten Lebensjahr in kostenlose Kindergärten gehen. Sobald die gefährdeten Kinder tagsüber raus sind aus den Familien, entwickeln sie sich auch. Sie lernen automatisch eine andere, differenzierte Sprache, andere Essgewohnheiten, andere Umgangsweisen und Konfliktlösungen. Konfliktlösungen, soziales Verhalten, das ist ungeheuer wichtig. Und natürlich Geschicklichkeit mit den Händen, mit dem Körper können sie einüben. Wir würden die Adipositas auf natürlichem Wege einfach vermeiden. Die Kindergärten müssen sehr gutes Personal haben, auch genug Personal. Wichtig ist, dass da eine richtig gute Spracherziehung gemacht wird. Also sie sollen nicht schon Lesen und Schreiben können vor der Schule. Sie sollen sprechen können, einen Wortschatz erwerben, die Dinge kennenlernen, sich gut miteinander unterhalten können. Man soll die Lust an der Sprache fördern. Und wenn sie dann in die Ganztagsschule kommen, dann haben sie eine gute Basis. Könnten dem Unterricht - der natürlich auch sehr viel besser werden müsste - problemlos folgen.
n so einer Schule würden sie dann all das machen können, was sie sonst nicht machen können: Sie könnten Musik lernen, ein Instrument spielen, überhaupt Handfertigkeiten, sie könnten Sport treiben, Wettbewerbe austragen, die Schularbeiten unter Aufsicht und mit Hilfestellung stressfrei erledigen, sie hätten ein soziales Leben, gemeinsames Essen, Spielen, alles. Es gibt keine Alternative! Und es geht einfach nicht, dass sich sozial orientierte Träger, Bildungseinrichtungen, Krankenhäuser, Altersheime, aufführen wie Kapitalgesellschaften. Profit, Profit, Profit! Man soll mit Bildung, Erziehung, Gesundheit keinen Profit machen. Und man soll hier nicht sparen. Das soll in staatlicher Hand sein. Da soll das Geld reingesteckt werden. Denn das ist das, was die Gesellschaft immer mehr auf den Hund bringt, dass sie immer weniger Solidarität übt mit den anderen."
Wir sind am Ende und bedanken uns, plaudern noch ein wenig. Angesprochen auf das solide Tischtuch aus weißem Leinen erzählt sie. "Das ist ein sehr fein gewebtes Sackleinen für Weißmehl. Es ist schon sehr alt und stammt noch aus der Mühle meines Großvaters. Die ist längst abgerissen, aber das Leinen existiert noch. In dieser Mühle bin ich auch geboren. Über hunderte von Jahren waren die Vorfahren meines Vaters Müller, so eine Kontinuität ist heute gar nicht mehr denkbar."
Sie schenkt Tee ein. "Ich wollte eigentlich gar nicht Lehrerin werden, ich wollte mal Bäuerin werden. Nach dem Abitur dachte ich an Bühnenbildnerin. Mein Vater sagte damals: Werde doch Lehrerin. Ich doch nicht! Dann habe ich Geschichte studiert in Bochum, bin dann nach Berlin gegangen ans OSI. Ich war auch politisch engagiert. Ich bin mal relegiert worden für zwei Semester, wegen geworfener Tomaten auf Sontheimer und Baring. Trotzdem habe ich mein Studium in den vorgeschriebenen acht Semestern geschafft. Kurz nach dem Diplom habe ich geheiratet und mit dem Pädagogikstudium angefangen "
--------------------------
* Die Bildungszentren des IB bieten Berufsvorbereitung, Ausbildung und Qualifizierung für benachteiligte und arbeitslose Jugendliche und Erwachsene unter 25. Sogenannte Stützlehrer begleiten den Unterricht und bereiten auf die externe Prüfung zum Hauptschulabschluss vor. Diesen Service bieten zahlreiche Bildungsträger, allein in Berlin an die 300. Der IB ist aber aufgrund seiner Entstehungsgeschichte und Entwicklung etwas Besonderes. Er ist ein Produkt deutscher Geschichte. 1949 wurde in der Uni Tübingen der "Internationale Bund für Kultur- und Sozialarbeit" gegründet (die Kultur wurde 1952 gestrichen). Gründer waren u. a. der SPD-Politiker Carlo Schmid, zuständig für Justiz, Kultur, Erziehung und Kunst, Präsident des Staatssekretariats der französisch besetzten Zone Württemberg-Hohenzollern; Henri Humblot, Franzose, Offizier, Kommunist und Leiter der Abteilung Jugend und Sport der französischen Militärregierung; Heinrich Hartmann, Kunstmaler und Hauptabteilungsleiter in der Reichsjugendführung der Hitlerjugend (er stand als NS-Funktionsträger auf den Fahndungslisten der Alliierten). Ziel des IB war die Umerziehung und Wiedereingliederung von herumirrenden Kriegsjugendlichen, Hitlerjungen und HJ-Führern durch Arbeitsdienst und Schulung. Wer sich freiwillig zur Teilnahme meldete, ersparte sich die Inhaftierung und wurde schneller entnazifiziert. Einige verblieben als Funktionäre im Bund, Hartmann war 1945-2001 im Vorstand bzw. Kuratorium. Heute ist der IB einer der großen freien Träger für Jugend-, Sozial- und Bildungsarbeit in Deutschland mit mehr als 700 Einrichtungen an 300 Orten, etwa 300.000 deutsche und ausländische Jugendliche werden jährlich gefördert.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Krieg in der Ukraine
„Weihnachtsgrüße“ aus Moskau