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Aus Sozialplänen werden Sozialfälle

Die angeblich mustergültigen Sozialpläne des Pleitekonzerns Saarstahl bedeuten für ihre Opfer überraschende, herbe Einkommenseinbußen  ■ Aus Saarbrücken Frank Thewes

Vor seinem 50. Geburtstag drückt Oskar Lafontaine das schlechte Gewissen. In den offiziellen Einladungen erbittet er statt „persönlicher Geschenke“ Spenden an die Stahlstiftung. Dafür gibt es einen guten Grund: Die von der Pleite des Saarstahl-Konzerns Betroffenen sind zunehmend sauer auf ihren einstigen „Retter“. Denn während Lafontaines Bezüge anders als bei vielen Amtskollegen auch in diesem Jahr steigen, müssen die Ex-Stahlarbeiter drastische Einschnitte hinnehmen.

Dabei hatte der Ministerpräsident noch am 18. Mai, als Saarstahl mit seinen 7.200 Beschäftigten Konkurs beantragte, ganz andere Signale ausgesendet. Die Landesregierung, so Lafontaine gelassen, garantiere alle Sozialpläne und Gehälter. Doch da hatte er zuviel versprochen: Zwar hatte das Land inzwischen zweistellige Millionensummen für ausgeschiedene Stahlarbeiter bereitgestellt, die Betroffenen erhalten jedoch weit weniger Geld als erwartet. Besonders hart trifft es die fast 4.000 Frauen und Männer, die bereits in den vergangenen Jahren aus dem Unternehmen ausgeschieden sind. Angeblich sozial abgefedert durch die Stahlstiftung, die die Bezüge aus Arbeitslosengeld, Landesmitteln und Beiträgen auf 80 Prozent des letzten Verdienstes zusammengestellt hat, müssen diese „Alt- Sozialplänler“ plötzlich unerwartete Kürzungen hinnehmen: Die Frauen und Männer zwischen 52 und 60 müssen künftig Steuern und Sozialabgaben selbst zahlen. Außerdem werden die Bezüge nicht mehr an die Tarifentwicklung in der Stahlindustrie oder die Inflation angepaßt: Die Betroffenen bekommen also in Wirklichkeit Monat für Monat immer weniger: „Ich kann doch“, klagt Hermann Schuler aus Völklingen, „in acht Jahren nicht mehr mit dem gleichen Geld wie jetzt auskommen.“

Schuler hat sich – wie viele andere auch – erst ein Haus gebaut, darauf noch Schulden abzuzahlen und das sicher geglaubte Geld bis auf die letzte Mark verplant. In Völklingen kommen nun bereits die ersten der bescheidenen Eigenheime unter den Hammer. Wer einen Teil seines Hauses vermietet hat, dem wird der Sozialplan neuerdings um die oft bitter benötigten Mieteinnahmen gekürzt. Von solchen Konditionen war nicht die Rede, als die „Alt-Sozialplänler“ vor Jahren teilweise freiwillig aus dem Unternehmen ausschieden. „Wir sind doch alle gelinkt worden“, erregt sich der 64jährige Erwin Senz. Ihm fehlt wie rund 500 anderen Sozialplan-Ruheständlern seit Mai die komplette Rente. 1.500 Mark hat er deshalb im Monat weniger. Noch, so Senz, „geht es nicht an die Substanz, aber die Angst vor dem Sozialamt ist groß“. Schon melden Schuldnerberatungsstellen einen starken Andrang ehemaliger Stahlkocher.

Gerhard Böttcher (Name geändert) gehört zu den mehr als 2.150 Saarstahl-Mitarbeitern, die bis Ende Juli gekündigt oder in den Sozialplan abgeschoben wurden. Jeden Monat, so hat der 49jährige ausgerechnet, „sind jetzt 800 Mark weniger in der Kasse.“ Wer wie Böttcher jünger ist als 52, kommt nur vorübergehend in den Sozialplan. Böttcher hat wegen seiner mehr als 30jährigen Betriebszugehörigkeit immerhin den längstmöglichen Zeitraum erwischt: 38 Monate. Danach, mit 52 Jahren, muß er sich auf dem freien Arbeitsmarkt nach einer Stelle umsehen – insbesondere im Saarland aussichtslos. „Aus Sozialplänen werden Sozialfälle“, bringt das Hermann Schuler auf den Punkt.

In Völklingen und Umgebung ist die Wut groß: Eine Interessengemeinschaft der Sozialplangeschädigten ist in dieser Woche gegründet worden. Dann wollen die Betroffenen auch einige rechtlich fragwürdige Klauseln ihrer Sozialplanvereinbarungen, die an den Tresen nur noch „Pistolenverträge“ genannt werden, unter die Lupe nehmen. Dort heißt es beispielsweise wörtlich: „Die von der Stahlstiftung betreuten Mitarbeiter verpflichten sich, auf freiwilliger Basis einen angemessen hohen Stiftungsbeitrag zu leisten.“ Auch die jetzt ausgeschiedenen Mitarbeiter wurden von der Saarstahl- Personalverwaltung unter Druck gesetzt. Sie dürften sich ebenfalls „freiwillig“ („sonst keine Zahlung“) bereit erklären, sofort in die Stahlstiftung zu wechseln und damit auf alle Ansprüche gegen das Unternehmen zu verzichten. Damit konnte Saarstahl noch vor Konkurseröffnung seine Lohnliste um einen zweistelligen Millionenbetrag kürzen und wurde die Arbeiter als besonders lästige Gläubiger vorzeitig los.

Was Betroffene wie Hermann Schuler zusätzlich wurmt, ist das Verhalten seiner Gewerkschaft. Die IG Metall hat die geänderten Sozialpläne mit der Schlagzeile „Hart, aber fair“ gefeiert. Gerade eine einzige Informationsveranstaltung haben Gewerkschaft und Betriebsrat auf die Beine gestellt; kritische Töne gegen die Landesregierung waren zum Ärger der sich verschaukelt fühlenden Beschäftigten nicht zu vernehmen. „Die stecken doch alle zusammen“, erklären das selbst frustrierte Gewerkschaftler beim Bier. Der Betriebsratsvorsitzende Edwin Ebert wird einer breiten Öffentlichkeit immer dann bekannt, wenn er, wie nach Lafontaines Pensionsaffäre, lauthals den „tollen Oskar als Retter der Stahlindustrie“ gegen alle miesen Pressekampagnen verteidigt. IG-Metall-Chef Kurt Hartz verdient sein Geld vor allem als SPD-Landtagsabgeordneter und ist außerdem der Bruder von Peter Hartz, dem Arbeitsdirektor von Saarstahl und der Dillinger Hütte. Doch der nimmt wenigstens die immer noch gebetsmühlenhaft verkündete Losung „Saarstahl hat Zukunft“ offenbar nicht persönlich: Peter Hartz wird als aussichtsreichster Kandidat für ein Amt fernab der Saar gehandelt: als Arbeitsdirektor bei VW.

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