Aus "Le Monde diplomatique": Die ferne Stimme meiner Tante
Ich telefoniere oft mit meiner Tante. Sie ist als Einzige geblieben und hütet für uns alle das irakische Haus mit dem Duft nach Muskat, Zimt und Kumin.
Für mich ist es mit der Heimat anders als mit einer Diät: Es reicht nicht, das Fett wegzulassen, damit das Herz wieder funktioniert. Mit dem Alter wird die Krankheit schlimmer. Man setzt sich über den Rat der Ärzte hinweg, tut ihr auch noch selbst weh, dieser Heimat, und macht sich Vorwürfe, weil man sie am Ende verliert.
Ich mag das Wort Heimat nicht besonders: Es erinnert mich an etwas, das allmählich immer kleiner geworden ist. Jetzt ist sie weit weg und kann mich nicht mehr täuschen. Ich sage lieber "das Land", dann muss ich nicht an die Menschen im alten und neuen Staat Irak denken, die hinter bewehrtem Beton und amerikanischen Panzern eingesperrt und von einem unterjochten Tiger in Schach gehalten werden.
Monotomie der Heimat
Ich habe mich immer gefragt, ob man ein halber Patriot sein kann. Kann man die Sehnsucht, Liebe und Abneigung, die man für seine Heimat empfindet, genauso regulieren wie den Blutzuckerspiegel? Es gibt nichts Erbärmlicheres als einseitige Liebe. Die Liebe eines einsamen Wesens, eines gebrochenen Bürgers, der ins Stottern gerät, wenn er den Namen seines Landes ausspricht. Liebe allein macht noch keine Heimat. Wenn ich mich mit meiner Heimat herumschlage, stoße ich auf viele Fragen, die nichts mit irgendwelchen Konzepten zu tun haben, mich aber immer neu verstören.
Es ist sinnlos, Theorien über die Heimat zu entwickeln. Ihre Macht zu entschlüsseln, geht über meine Kräfte. Von der Heimat Vollkommenheit zu erwarten, heißt, uns unserer Menschlichkeit zu begeben. Was aber ist das Geheimnis? Geht es um Gerechtigkeit? Oder ist es, wie bei uns allen, nur der Überdruss an der Heimat? Ja, das ist es, aber selbst dieser Überdruss, den ich so oft in allen Gliedern spüre, hilft mir nicht, mich von ihr zu lösen.
war im Irak Chefredakteurin der Zeitschrift al-Rasid. Sie lebt seit einigen Jahren als Autorin und Journalistin in Paris. Auf Deutsch erschien von ihr zuletzt der 2004 mit dem Nagib-Machfus-Preis für Literatur ausgezeichnete Roman: "Die Leidenschaft", Zürich (Lenos) 2004.
Wir haben es nie geschafft, dass unsere Länder uns so lieben, wie wir es gern hätten. So viel ich meinem Land auch hinterhergerannt bin, es war vergebens. Es ist mir nicht gelungen, sein Wesen und seine Gesetze zu verstehen. Ich war und bin immer noch eine Fremde, in meinem Land ebenso wie hier in Frankreich. Ich hatte immer den Eindruck, dass das Land viel außergewöhnlichen Stoff zum Schreiben liefert und dass wir auf seine Kosten und unter seiner Last zugleich leben.
Dennoch nutzen wir jeden denkbaren Vorwand, um uns von ihm zu befreien, und wir hören nicht auf, uns im Namen des Landes oder an dem Land oder für das Land zu rächen. Ich sehe noch das Transparent vor mir, das wir in unserer Jugend schwenkten: "Wir werden sterben, und die Heimat wird leben!" Warum sollten die Bürger für ihre Heimat sterben? Ist sie denn tatsächlich eine Aufforderung zur Vernichtung?
Nahe und ferne Zukunft
Neulich habe ich vor den anderen zweiundzwanzig Schülern in meinem stockenden Französisch zu unserer Lehrerin Claudia gesagt: "Ich bin eifersüchtig auf die eure beiden Zukunftsformen im Französischen. In meinem Land haben wir nur einen Buchstaben, das 's', das wir vor das Verb setzen müssen, um das Reich der Zukunft zu betreten. Aber sobald der Tyrann, der Besatzer oder der Kollaborateur merkt, dass es diesen Buchstaben gibt, wird das betreffende Verb nie wieder benutzt."
Die Schüler brachen in höfliches Lachen aus: Sie dachten, ich wollte scherzen. Ich saß in der ersten Reihe, wegen der Krankheit, an der meine Augen leiden. Nur Claudia sah die Tränen, die sie trübten. Ich habe sie heruntergeschluckt, während sie mir die Schulter tätschelte. "Hab keine Angst, du bist hier, bei uns."
In meinem Land wird die Zukunft seit Jahrzehnten mit der Lupe inspiziert. Sie ist einsam geworden und hat ihre Spontaneität verloren. Seit der amerikanischen Besatzung wird sie, glaube ich, vom Volk gänzlich ferngehalten. Mit der Aufforderung, diesen Text zu schreiben, bekam ich einen bitteren Geschmack in den Mund. Ich öffnete die Archive, die über und über mit Blut befleckt sind, Blut, das immer noch jeden Quadratmeter des Irak bedeckt.
All die Cliquen erschienen vor meinem inneren Auge: die "Milchschokoladen-Linke" und die Religiösen mit den glänzenden Turbanen; die Bürgerwehren der korrupten Politikerkaste, die stets Bigotterie, Blutrache und Schändlichkeit gepredigt und verbreitet hat, so dass man das Leben schon zu verachten begann, bevor man es lebte; die Irakische Kommunistische Partei, die im Laufe ihrer Geschichte viele Märtyrer verloren hat, sich auf einen Flirt mit dem Saddam-Hussein-Regime einließ, und jetzt, wo sie alt wird und ihre Kader verkalkt sind, masturbiert sie an der Brust des Besatzers und der religiösen Zurechtweisungen. Außerdem gibt es noch ein paar Leute, die sich wie wir heimlich mit unserem Land treffen, es insgeheim lieben und im Verborgenen oder auch öffentlich beschimpfen.
Ich habe mich nie für Politik interessiert, auch nicht für Heldengeschichten. Worte wie Held, Märtyrer und Opfer machen mir Angst. Sie haben eine sehr körperliche, tyrannische Macht, die einen krank und fanatisch machen kann.
Dieser Text ist aus der aktuellen Le Monde diplomatique. Die nächste Ausgabe der Monatszeitung erscheint als Beilage der taz am 13. Januar 2012.
Bagdad ist eine faszinierende Stadt, die dazu verleitet, sie zu verwüsten. Wenige Monate nach der US-Invasion erklärte ein hoher Offizier: "Wir werden aus dieser historischen Hauptstadt einen großen Parkplatz machen." Das war schön gesagt und so klar! Alles kam wie angekündigt. Sie haben nicht mehr Verbrechen verübt als nötig. Denn der Tod bestand in allen blutigen Zeiten, die den Irak je erschüttert haben, darin, dass Köpfe abgeschnitten, gespalten, verbrannt wurden.
Vergangenheitsform
Nach dem Unterricht sprachen Claudia und ich noch über den Druck, den die Sprache auf mich ausübt, und den Druck der Heimat, der mir den Atem nimmt. Ich war wie im Todeskampf, zerrissen zwischen dem Verschwinden meines Landes und den Geheimnissen der französischen Sprache, die wie ein Schatz zwischen den stotternden Lauten meiner arabischen Zunge verborgen war. Ich rieb mich auf und sagte mir immer wieder: "Doch, doch, es ist möglich, dass eine alte Dame wie du eines Tages diese Sprache beherrschen wird, die so köstlich zu sein scheint wie ein Glas guter französischer Wein."
Doch bis heute stehe ich immer vor demselben Dilemma: Ich habe meine Rache nicht bekommen, und die Sprache hat sich mir nicht unterworfen. Und als Irakerin besitze ich nicht einmal mehr einen Krümel meines fernen Landes, das in tausend Stücke zerspringt. Ich habe mich mit ihm in der Pracht und der Vertrautheit meiner Kindheit verschanzt, die ich nie verlassen habe, bis ins Stolpern meiner Zunge hinein.
In Paris bin ich von einer Sprachschule zur anderen gezogen. Ich habe gelernt, vergessen, von vorn angefangen, versagt, bestanden, aufgegeben, weitergemacht … Was habe ich nicht alles auswendig gelernt, geschrieben, zerrissen, habe mich betäubt, betrogen, es noch einmal versucht! Es war, als müsste ich meine eigene Sprache vergessen. Vor dem Einschlafen kam mir in den Sinn, dass das Französische wie ein vornehmer Liebhaber ist, der mein Bett verlassen würde, wenn ich seinen Namen falsch ausspräche.
Das Französische hat mich immer wieder im Stich gelassen, und ich bin lange auf demselben Niveau stehen geblieben. Unter anderem deshalb habe ich mich auf mein eigenes Sprachsystem zurückgezogen, das sich tief in meiner vollendeten und unvollendeten Vergangenheit und in meiner mageren und einfachen Zukunft verkrochen hatte. Beide, Vergangenheit und Zukunft, glichen meinem lumpigen Französisch. Trotzdem äußere ich mich immer wieder mit lauter, eloquenter Stimme in dieser Sprache und kämpfe, um sie fehlerfrei zu sprechen. Ich habe mir immer gesagt: "Der Anfang des Satzes wird halbwegs korrekt, die Mitte etwas verquer, egal, aber ich werde zusehen, dass das Ende logisch ist."
Eigentlich war die Beziehung zwischen der neuen Sprache und meinem alten Land ganz einfach: Das Erlernen der Sprache raubte mir die Kräfte, genauso wie mein Land. Dass ich mich sprachlich nicht sicher fühlte, machte mir das Leben als Ausländerin schwer. Auch mein Land machte mich unsicher und bedrohte mich. Wer bist du? Woher kommst du? Deine Mutter ist Syrerin, nur dein Vater ist Iraker. Genügt das, um patriotischen Stolz für sich in Anspruch zu nehmen? Was ist deine Blutgruppe? Was ist das Geheimnis deiner Religion? Steht dein Haus immer noch in al-Adhamija?
Heute frage ich mich: Was soll ich mit der Heimat machen? Mit der alten, verlassenen, schuldigen, amputierten, und mit der neuen, besetzten, unterwürfigen, unwiederbringlichen. Alles wird manipuliert, Gene, Länder, Glauben. Sogar die Liebe wird über ein virtuelles Netz diktiert. Warum sollte nicht auch die Heimat virtuell sein?
Unser Haus in al-Adhamija ist nicht mehr bewohnbar. Man kann weder darin schlafen noch in seinen Winkeln stöbern. Der kürzeste Weg dorthin führt über meine Kindheit. Ohne sie, die so weit zurückliegt, sehe ich dort nichts. Ein streunender, räudiger Hund jault seinen einstigen Besitzern entgegen, die erst fortgegangen und dann gestorben sind, die verjagt wurden, die geflohen, alt geworden und verschwunden sind.
Häuser wussten ihren Bewohnern von jeher Lehren zu erteilen, überall. Auf den Kacheln unseres Hauses in al-Adhamija finde ich jederzeit meinen Hunger und meine Nacktheit, meine Verwandlungen und meine Hingabe wieder. Ich schreibe, ich mache Bücher, aber ich komme immer dorthin zurück und lasse zu, dass sich dieses Haus in mein Leben drängt. In jedem Roman ist es der Kern meines Todeskampfs. Egal, sage ich mir, ich werde wieder aufstehen und meine Festungsmauern neu errichten, um dorthin zurückzukehren.
Ich telefoniere oft mit einer Tante, der Einzigen, die dort geblieben ist, sie hütet für uns alle das irakische Haus und die Küche mit dem Duft nach Muskat, Zimt und Kumin. Wenn ich mit ihr spreche, bedrängt mich ihre schwache, verlorene Stimme. Auch sie ist am Ende. Es ist die Stimme dessen, was von der Familie übrig bleibt. Warum hat sie es so eilig, das Gespräch zu beenden? Damit ich nicht so viel Geld ausgebe? Das sagt sie sich, nicht ich. Zugegeben, sie hört nicht mehr gut, und ihre heisere Stimme ist nicht mehr so, wie sie einmal war, denn ihr Leben reicht zurück bis zur falschen Unabhängigkeit des Irak.
Doch ich stelle ihr einen Haufen Fragen. Wo schläfst du? Ist in deinem Zimmer immer noch so viel Sonne? Stehen immer noch die hübschen Möbel im Wohnzimmer, die Möbel unserer wilden Kindheit und unserer früh erloschenen Jugend? Wer kommt dich besuchen, liebe Tante? Da schluchzt sie leise und sagt halb scherzhaft: "Weißt du, mein Kind, ich sehe niemanden außer die Ameisen, die in gerader Linie an meinem Kopf vorbei zu ihren Häusern laufen, wenn ich im Bett liege. Ich bin nicht mehr so gut zu Fuß wie früher. Von meinem Zimmer aus sehe ich die Äste fallen, einen nach dem anderen. Sie haben wie wir eine Krankheit, deren Namen niemand kennt. Und die Farbe ist von den Wänden abgeblättert, ihr Fleisch ist nackt, wie unser aller Fleisch."
Dann legt sie plötzlich auf. Ich werde aus dem Raum ihrer irakischen Stimme verjagt. Ich rufe immer wieder an, wähle eine Privatnummer, dort, in Bagdad, in al-Adhamija, in diesem Haus, meinem Haus. Aber oft klingelt das Telefon und keiner geht ran. So ist es. Der Ort ist da, verborgen, wie ein ständiger Köder, wir aber, wir existieren dort nicht mehr.
Ich schreibe, lebe, liebe auf Arabisch, auf Arabisch entwickle ich die Handlungen und Dialoge meiner Romanfiguren. Ich lasse nicht zu, dass meine Sprache sich verliert. Paris, die kosmopolitische Großstadt, bringt mich dazu, dass sich meine Figuren in der Freiheit üben, die das Kraftzentrum all meiner Bücher ist. Alles hier zieht mich zur Freiheit hin. Wenn ich schreibe, lasse ich die Männer und Frauen in sie eintauchen und von ihr kosten, und sei es nur ein einziges Mal, denn ich weiß, dass die Freiheit ansteckend ist und uns manchmal den Mut entdecken lässt, den wir unbewusst in uns tragen.
In Paris habe ich besser als in allen anderen Städten, in denen ich gelebt habe, verstanden, dass mein Wissen und meine Entscheidungsfreiheit wachsen können und dass die Zukunft immer neue Wahlmöglichkeiten bietet. Hier habe ich die Schönheit meiner Weiblichkeit als langen Weg von Freuden und Chancen empfunden. Hier habe ich meiner Reife und meinem Alter erlaubt, jede Etappe zu genießen.
Das Alter wird in der Freiheit intensiver. Ich habe hier meine glücklichsten Momente erlebt. Und dennoch ist es so, wie die Heldin in meinem letzten Roman „Eine pragmatische Liebe“ sagt: „Paris macht dich glücklich, wenn du reich, jung und gesund bist. Ich aber bin nichts von dem.“
Eigentlich bin ich überzeugt, dass ich in mir ein hochverdichtetes Exil und eine äußerst starke Heimat trage, auch wenn meine Bücher in meinem Land seit Jahrzehnten verboten sind. Das ist das Paradox: Dort liegen meine gesamten Reserven verborgen, und trotzdem quälen mich noch immer Gefühle der Schuld – als sei ich eine Verräterin.
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
Le Monde diplomatique vom 9.12.2011
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