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Auftakt in Cannes - Meirelles "Blindness"Desolate Parallelwelten

Cristina Nord
Kommentar von Cristina Nord

Der Auftakt der Festspiele in Cannes: Fernando Meirelles Wettbewerbsbeitrag "Blindness" malt die Dystopie nach Kräften aus.

Die Schauspieler Don McKellar, Danny Glover und Gael Garcia Bernal in Cannes. Sie spielen zusammen in "Blindness". Bild: dpa

M erkwürdige Zusammenkunft: Eben noch war beim Berliner Theatertreffen mit "Die Erscheinungen der Martha Rubin" ein Experiment zu erleben, das einen dystopischen Zustand - eine Gruppe von Menschen haust im Niemandsland zwischen dem militärisch organisierten Nordstaat und dem in Chaos versunkenen Südstaat - anschaulich machte. Ruby Town war der Name des improvisierten Lagers. Die Darsteller wohnten hier rund um die Uhr, über mehrere Tage hinweg; als Zuschauer begab man sich hinein wie ein Reisender in ein Elendsgebiet. Nachdem man den Grenzposten passiert hatte, stieß man auf schäbige Hütten und Wohnwagen, auf Blechwannen und Spelunken, auf Koffer mit Kreidebeschriftungen, kurz: auf einen Mischmasch aus Sozialismus-Tristesse, Osteuropa-Schlendrian, Zigeunercamp und Konzentrationslager. Das mochte erwartbar sein, doch je länger man in Ruby Town ausharrte, je bereitwilliger man in Kontakt trat mit den Figuren, je mehr Wodka man mit ihnen trank, umso mehr Geschichten gaben sie preis - und umso stärker verwickelten sie einen, machten sie einen zum Teil der Inszenierung, vielleicht auch zum Komplizen. Mit dem Effekt, dass man in Gedanken noch lange in dieser desolaten Parallelwelt verweilte.

Am ersten Tag des Filmfestivals von Cannes, das selbst ja schon eine Parallelwelt bildet, kehrt die Dystopie zurück; Fernando Meirelles Beitrag "Blindness" malt sie nach Kräften aus. Ein Zustand, in dem die Regeln der Zivilisation außer Kraft sind, in dem die Normalität aufgehoben ist, in dem die Institutionen versagen - ein Zustand, der vielen Filmen einen Rahmen gibt, zuletzt etwa "Children of Men" von Alfonso Cuarón oder "Wolfzeit" von Michael Haneke. Nicht zufällig, - schließlich hat es großen Reiz, sich vorzustellen, wie eine Stadt aussieht, wenn ihre Bewohner nicht länger ihren geregelten Abläufen folgen, nichts mehr funktioniert. Wie gehen die Menschen miteinander um? Werden sie einander zu den sprichwörtlichen Wölfen? Oder sind sie, im Gegenteil, zu Empathie und Solidarität imstande?

"Blindness" basiert auf einem Roman des portugiesischen Schriftstellers José Saramago aus dem Jahr 1995. Eine Epidemie befällt die Bewohner einer Stadt - im Film ist es eine farbengesättigte Megalopolis, stellenweise futuristisch, stellenweise schäbig in Szene gesetzt (gedreht wurde in Montevideo und São Paulo). Von einem Moment zum nächsten werden die Menschen blind; nur mehr eine weiße Fläche nehmen sie wahr. Das nutzen Meirelles und sein Kameramann César Charlone für zahlreiche Weißblenden; schemenhaft sind Körper und Bewegungen zu erkennen.

Einzig eine Frau, gespielt von Julianne Moore, behält ihr Augenlicht. Die Erblindeten werden deportiert und in einer Anstalt verwahrt, rasch setzt sich das Recht des Stärkeren durch. Gael García Bernal übernimmt die Rolle des Schurken, der sich zum König deklariert und fortan das Essen rationiert, was erwartbar zur Eskalation führt. Irgendwann geben die Militärs die Anstalt auf, und die Blinden kehren stolpernd im Gänsemarsch in die Stadt zurück. Eine Stimme aus dem Off erklärt derweil, für Blinde gebe es keine offenen Räume, keine Freiheit. In einer Szene liegt ein Toter auf einer Treppe, Hunde scharen sich um die Leiche, die Kamera, hat man den Eindruck, schaut ganz gerne hin, wenn die Tiere zubeißen.

Nach dem Film, auf der Treppe vor der Salle Debussy, blendet die Mittagssonne. Es dauert eine Weile, bis die Croisette und die vielen Menschen in diesem ungewohnten Gleißen zu erkennen sind. Meirelles Parallelwelt ist dann schon weit in die Ferne gerückt. CRISTINA NORD

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Cristina Nord
Kulturredakteurin

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