: Aufruhr der Mittelschichten
DAS SCHLAGLOCH von MICHAEL RUTSCHKY
Durchbruch für deutsches Linksbündnis. PDS nennt sich jetzt „Linkspartei“. Die Welt, 18. 7. 2005
Merkel soll Manager zähmen. Arbeitnehmerflügel der Union fordert Gesetz zur Begrenzung von Aufsichtsratsmandaten.Berliner Zeitung, 18. 7. 2005 Stoiber legt sich fest: Vier Prozent Arbeitslosenquote. Süddeutsche Zeitung, 18. 7. 2005
Dass der Bundeskanzler eine Operation eingeleitet hat, die im Herbst zu Neuwahlen für den Bundestag führen soll, erzeugte in den Mittelschichten der Republik eine eigentümliche Stimmung. Wählbar erschienen plötzlich nicht nur die Parteien, die hinterher Regierung respektive Opposition stellen werden. Das Insgesamt der Republik, so sieht es aus, steht zur Entscheidung an.
Wollen wir (wieder) eine (konservative) Regierung, die ebenso kunstvoll wie entschlossen die notwendigen, aber unerfreulichen Maßnahmen durchsetzt: Steuererhöhungen, Einsparungen, Neuverschuldung? Oder wollen wir gar eine „andere Republik“, wie Willy Brandt das nannte und wie es, als Wunsch- oder Schreckensformel, immer mal wieder durch die Öffentlichkeit geistert. Zuweilen schaut es sogar so aus, als wollten die Konservativen, statt sauber „durchzuregieren“, wie sie sagen, selber diese andere Republik.
Vor allem aber scheint sie die neue, kuriose Linkspartei anzustreben. „Wahrhaft national-sozial“, nennt sie unser alter Freund A. spöttisch, seit die Spitzenkandidaten ihre Anschlussfähigkeit zu ehemals rechtsradikalen Wählern herzustellen sich bemühen. Unser junger Freund Z. hingegen nennt sie die Partei der Leserbriefschreiber. In der Tat finden sich, beobachtet man die einschlägigen Abteilungen der Tageszeitungen, dort besonders enthusiastische und einlässliche Vorschläge, was jene Partei zu beschließen hätte, damit das Leben in Deutschland seine Unerträglichkeit verliert.
Nach den Jahrzehnten der angebotsorientierten muss jetzt (wieder) eine nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik durchgesetzt werden; woher soll schließlich die Konsumlust kommen? Keynes hat doch recht, die Staatsverschuldung ist nicht das Problem. Warum hat man Lafontaine damals, als er Finanzminister war, nicht einfach machen lassen, wie er wollte? Und so fort.
Insbesondere hätte der Staat, denken diese Fraktionen der Mittelschichten, den Reichen zu nehmen und den Armen, deren Anzahl täglich wachse, zu geben; wie Robin Hood. Der Staat hätte (wieder) Agent der sozialen Gerechtigkeit zu sein, der Wohlfahrtsstaat, wie er nach 1945 in unseren Gegenden entstand, um die Klassenkämpfe zu befrieden, die in den Zwanziger- und Dreißigerjahren den Kontinent verheerten.
Unser junger Freund Z. kann in diesem Wohlfahrtsstaat freilich nur eine Utopie der Siebzigerjahre erkennen. Als seine Eltern jung waren und in den öffentlichen Dienst eintraten. Jetzt nähern sie sich der Pensionierung, wenn sie die nicht sogar schon hinter sich haben – halten aber an der Idee fest, der öffentliche Dienst sei eigentlich das perfekte Modell, nach dem das Erwerbsleben der Bevölkerung zu regeln sei. Der Beamte, pflege sein Vater immer zu sagen – so der junge Z. –, darf auf nichts verzichten, was ihm zusteht.
„Anspruchsdenken“ nannten das in den Siebzigern die Kritiker; und sie diagnostizierten, dies Denken werde über kurz oder lang zur „Unregierbarkeit“ führen, weil immer mehr Bürger den Staat mit ihren Wünschen belästigen und der Staat sie mangels Steuermitteln nicht befriedigen kann – nun, spottet der junge Z., heute sind das ja alles kalmierte Vorruheständler respektive Pensionisten, die das Anspruchsdenken bloß in ihren Leserbriefen ausgeben. Keinerlei Gefahr in Richtung Unregierbarkeit absehbar. Und die ulkige Linkspartei will ja sowieso sich im Parlament auf Opposition spezialisieren; das Parlament soll eine unendlich erweiterte Leserbriefseite sein, wo endlich (wieder) gesagt wird, was doch mal gesagt werden muss! Was Recht ist muss Recht bleiben! Und so fort.
Unser alter Freund A., der sein Arbeitsleben außerhalb des öffentlichen Dienstes verbracht hat, kann nur schnauben vor Verachtung für diese Vorruheständler und Pensionisten; dass sie ihre Privilegien nicht stillschweigend genießen, sondern lauthals fordern, sie möchten allen zugute kommen, erkläre sich vermutlich bloß aus ihrem schlechten Gewissen. Im Übrigen sei der Wohlfahrtsstaat eine Erfindung Bismarcks, dank deren sich die preußischen Konservativen so lange an der Macht halten und die Demokratisierung Deutschlands verhindern konnten.
Aber all diese Forderungen und Leserbriefe wirken aufreizend, nicht wahr, und so ist bei den Mittelschichten diese Stimmung entstanden, in der die Gesamtverfassung der Republik zur Debatte, ja zur Entscheidung steht. Wollen wir wirklich eine Gesellschaft, in der einige wenige Ackermänner im Jahr Millionen verdienen, während die Mehrheit Arbeitslosigkeit und das reduzierten Arbeitslosengeld bedrohen?
Keine realistische Problemstellung, klar; aber sie eröffnet einfache Alternativen, wie es zur Politisierung gehört. Freiheit oder Sozialismus, Armut oder Wohlstand, Gerechtigkeit oder Ausbeutung. Es ist die Frage, ob eine konservative Regierung diese Aufregung zu nützen und dann auszusitzen vermag. Zwar versprechen die Konservativen – wie sich aus ihrer Tradition herleitet – das ruhige und verständige Durchregieren, nach all dem Buhei und der Konfusion, wie sie die rot-grüne Koalition hervorgerufen respektive begleitet habe. Doch gehört diese konservative Art von Management womöglich auf immer der Vergangenheit an und lebt nur noch in der Nostalgie. Wer sich an die Achtzigerjahre erinnert, die ersten Jahre der Kanzlerschaft Helmut Kohls: Jede Saison standen Probleme an, die für die Koalition unlösbar waren – wie das Publikum meinte –, ja man rechnete andauernd mit der Auswechslung des Kanzlers. Gerhard Stoltenberg hieß der Kandidat in den Kulissen …
Diesmal wird er vermutlich Christian Wulff heißen. Oder Roland Koch. Die ersten Misserfolge und Fehlentscheidungen Angela Merkels werden dieselbe Aufregung hervorrufen, die jetzt herrscht und die Rot-Grün die ganze Zeit begleitet hat. Womöglich hat sich diese Aufregung längst als Atmosphäre, als Fluidum etabliert, das sämtliche politischen Prozesse umhüllt. Gerade weil es in ihnen nicht um Grundsätzliches geht, Freiheit oder Sozialismus, Armut oder Wohlstand, Gerechtigkeit oder Ausbeutung.
Vermutlich wird Rot-Grün sehr bald verklärt. Ja damals, wird es heißen, als Gerhard Schröder Bundeskanzler war, da wurde noch richtig regiert. Nicht dieses hilflose Herumgestochere in wirren Problemhaufen, die konfusen Debatten zwischen CDU und CSU, und Stoiber kann sich wieder nicht entscheiden, ob er Superminister werden will.
Und zwischendurch immer die butterüberglänzten Parlamentsauftritte von Oskar Lafontaine, der vor Stolz über sein eigenes Rechthaben kaum laufen kann – das, sagt mein alter Freund A., ist wirklich das Allerschlimmste: dass wir ihn immer wieder an prominenter Stelle zu sehen kriegen werden. Statt dass er endlich in der Versenkung verschwindet.