■ Aufruf an den Bundestag und die Bundesregierung: „Wir bitten nicht um Almosen!“
Der Leidensweg der Juden in Litauen, Lettland und Estland begann im Sommer 1941. Er ist bis heute nicht zu Ende.
Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten im Baltikum etwa 400.000 Juden. Vilnius und Riga waren bedeutende Zentren jüdischen Lebens und jüdischer Kultur. Wegen seiner großen jüdischen Gelehrsamkeit trug Vilnius den stolzen Titel eines „litauischen Jerusalem“. Es war das letzte Jerusalem der Diaspora.
Mit der Besetzung der drei baltischen Staaten durch die Wehrmacht im Juni/Juli 1941 begann ein beispielloses Morden. Den deutschen „Einsatzkommandos“ und ihren einheimischen Helfern fiel fast die gesamte jüdische Bevölkerung des Baltikums zum Opfer. Von Ende 1941 bis Oktober 1942 wurden auch rund 50.000 Juden aus Berlin, Hamburg, Hannover und Leipzig, aus Westfalen, aus dem Rheinland und aus Süddeutschland, aus Wien und Prag in das Rigaer Ghetto deportiert. Sie teilten das Schicksal der baltischen Juden. Die Massaker und die Zwangsarbeit haben nur wenige überlebt: 800 Menschen in Litauen, 300 in Lettland.
Der physischen Vernichtung durch die Nazis folgte die Unterdrückung alles Jüdischen, das Verschweigen des Holocaust unter der Sowjetherrschaft. Verdrängt und vergessen wurde das Schicksal der baltischen Juden aber nicht nur im Osten, sondern auch im Westen. Heute leben noch etwa 300 ehemalige Ghetto- und KZ-Häftlinge im Baltikum, 120 in Lettland, 150 in Litauen und 20 in Estland. Die meisten sind über 70 Jahre alt. Alle sind arm, viele sind krank, die meisten alleinstehend. Die Inflation hat ihre Ersparnisse verschlungen, die Rente reicht gerade für die Miete, nicht für Essen, Heizung und Medikamente.
Aus der Bundesrepublik Deutschland erhalten die ehemaligen Ghetto- und KZ-Häftlinge bisher keine „Wiedergutmachung“. Dafür gebe es „keine Rechtsgrundlage“, begründeten Bonner Ministerialbeamte ihre ablehnenden Bescheide gegenüber mehreren offiziellen Anfragen aus Riga und Vilnius.
Diese Art Rechtsdenken demütigt die ältesten und ärmsten Opfer des Nationalsozialismus zutiefst. Sie ist eines demokratischen Rechtsstaates unwürdig.
Im März überreichte eine Delegation der Jüdischen Gemeinde zu Riga und der „Vereinigung der ehemaligen Ghetto- und KZ-Häftlinge Lettlands“ in Bonn einen Brief an Bundeskanzler Helmut Kohl. Darin heißt es: „Wir bitten nicht um Almosen, wir fordern bloß nachdrücklich unser Recht auf eine angemessene Kompensation für das geraubte Eigentum und für die geleistete Zwangsarbeit.“ Die Überlebenden können belegen, daß dem deutschen Staat bereits bis Mai 1942 4,5 Millionen Reichsmark aus der Beschlagnahme jüdischen Eigentums und 5,5 Millionen Reichsmark aus der „Verwertung von Judenarbeit“ in Lettland und Litauen zugeflossen sind.
Die Unterzeichner fordern alle Fraktionen im Deutschen Bundestag und die Bundesregierung dringend auf, schnellstmöglich für Entschädigungsleistungen an die ehemaligen Ghetto- und KZ-Häftlinge in Estland, Lettland und Litauen zu sorgen und die dafür notwendige Rechtsgrundlage zu schaffen! Was gegenüber Rußland, Weißrußland und der Ukraine jüngst möglich war, kann gegenüber dem Baltikum nicht unmöglich sein. In die Vertragsverhandlungen mit den baltischen Regierungen sind die Vertretungen der baltischen NS-Opfer einzubeziehen.
Am 23. September 1943 wurde das Ghetto von Vilnius „aufgelöst“. Am 2. November 1943 wurde das Ghetto von Riga „aufgelöst“. Das ist nun 50 Jahre her. Die Überlebenden leiden immer noch. Verpassen Sie nicht die letzte Chance, den wenigen vergessenen Überlebenden des NS-Terrors im Baltikum einen Lebensabend ohne materielle Not zu ermöglichen.
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