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Archiv-Artikel

Aufgeblätterte Seelen

Faszinierend: Mozarts „Entführung aus dem Serail“ im Theater am Goetheplatz

Was passiert eigentlich im Palast des Sultans, während Belmonte schon vor dessen Toren in die Fänge des Aufsehers Osmin gefallen ist? Normalerweise sehen wir das in Mozarts Singspiel „Die Entführung aus dem Serail“ nicht, denn die Szene wechselt ständig zwischen drinnen und draußen. Nicht so in der faszinierenden Inszenierung von Philipp Himmelmann, der den Palast durch einen großen Orientteppich auf der Bühne darstellt und so ständig beide Szenerien zeigen kann.

Das erlaubt ihm bei permanenter Anwesenheit aller Beteiligten die Umsetzung seiner Idee: Konstanze hat längst ein Verhältnis mit dem Bassa, ebenso Blonde mit Osmin. Nicht die reale Gefangenschaft der Europäer in einem türkischen Harem zeigt der Regisseur, sondern die zeitlose Gefangenschaft der Herzen. Die einstmals heile Welt der zwei Paare ist ins Wanken geraten. So sehr, dass Konstanze nach der Befreiung am Ende nicht mitgeht und Belmonte alleine auf der Fluchtleiter hängt.

Mit klaren Zeichen zieht Himmelmann konsequent sein Konzept permanenten Wechsels zwischen seelischer Nähe und Ferne durch: so, wenn Belmonte seine erste Arie vor dem Palast singt. Drinnen horcht Konstanze auf, als erinnere sie sich an ferne Zeiten. „Ohne dich ist’s mir nur Pein“, singt Konstanze im Duett mit Belmonte, doch nur die Worte richtet sie an ihn. Der Blick gehört dem Bassa. Ein zutiefst berührendes choreographisches Seelenmuster wird aufgeblättert.

Geschehen auf der Bühne, Musik im Orchestergraben: Auch das ist in dieser Aufführung neu gerüttelt. Indem Generalmusikdirektor Lawrence Renes einen großartig fortgeschrittenen Umgang mit der Schlankheit und dem Drive historischer Aufführungspraxis zeigt – und die MusikerInnen der Bremer Philharmoniker souverän folgen – gewinnt die Musik einen dramaturgischen Stellenwert. Sie spielt ihren (Seelen-)Part so präzise, dass Himmelmann auf die Dialoge weitgehend verzichten kann.

Ein solches Konzept steht und fällt mit der Leistung der SängerInnen: Jennifer Bird als Konstanze macht in jedem Augenblick deutlich, dass die extrem schweren Koloraturen ein Ausdruck höchster Verzweiflung sind. Vor der Premiere hatte Bird gesagt, sie wolle die „Herzen der Bremer erobern“: schon geschehen. Markus Schäfer als Belmonte und Thomas Scheler als Pedrillo: wunderbar timbrierte, schlanke, wirkliche Mozartstimmen. Die eingesprungene Eir Inderhaug (Blonde) brillierte als zornig-furioser Wildfang. Kristjan Moisnik als Osmin führte die ihm abverlangte Brutalität nicht ganz glaubwürdig durch. Auch wird seine sehr lyrische Bassstimme den knalligen Ausbrüchen des Osmin nicht immer gerecht. Insgesamt aber ein großer Abend. Ute Schalz-Laurenze

Nächste Vorstellungen: 15. und 23. 10., 19.30 Uhr im Theater am Goetheplatz