■ Auf einer bundesweiten Tagung am Wochenende in Güntersberge (Harz) monierten die BetreiberInnen von Kinderläden aus allen Teilen Deutschlands, daß sie als "Lückenbüßer" für eine verfehlte Familienpolitik...: Anspruch auf Wildwuchs
Auf einer bundesweiten Tagung am Wochenende in Güntersberge (Harz) monierten die BetreiberInnen von Kinderläden aus allen Teilen Deutschlands, daß sie als „Lückenbüßer“ für eine verfehlte Familienpolitik herhalten müssen
Anspruch auf Wildwuchs
Tigerente“ wartet auf Kinder. Der bisher einzige Kinderladen in Chemnitz hat einen schlechten Ruf. Die Eltern in der schon ländlichen Vorstadt mißtrauen diesen „alternativen Spinnern“, die im ehemaligen Kindergarten alles anders machen. Der Pfarrer warnt die Gemeinde vor „antiautoritärer Erziehung“, Kinder würden, Gott bewahre, dem „Wildwuchs“ überlassen. „Lieber bringen die Leute ihre Kinder in eine überfüllte kommunale Einrichtung, wo alles so läuft, wie sie es bisher kannten, als zu uns, wo sie sich selbst engagieren müßten.“
Uta Marschk hatte zwölf Jahre lang als Kindergärtnerin gearbeitet. Nach dem Herbst 89 probierte sie mit anderen Eltern zunächst „die Waldorf-Richtung“ aus. Bald merkten sie: „Das ist es nicht, was wir wollen.“ Vor drei Jahren gründeten die gleichen Eltern den Kinderladen „Tigerente“, benannt nach der allgegenwärtigen Janosch-Figur. Zehn Kinder leben dort, weitere zehn Plätze sind frei, mit allen finanziellen Konsequenzen für den Elternverein.
Ähnliche Sorgen kannte das „Kinderhaus“ in Karlsruhe vor Jahren. Heute gehen dort 30 Kinder hin, und die Elterninitiative darf aus einer langen Warteliste auswählen. Martina Geis sieht ihren Kinderladen als eine „Großfamilie“, für ihre anderthalbjährige Sarah wie für Kids, die schon in die Schule gehen. „Unser Konzept macht es eigentlich unmöglich, daß ein Kind ausgegrenzt wird. Die Altersspanne ist ein großer Vorteil.“ Vorwiegend Alleinerziehende engagieren sich im Karlsruher „Kinderhaus“. Für die berufstätige Mutter dreier Kinder verbindet sich damit auch eine politische Forderung: „Ich will für die Kinder und für meine Arbeit Zeit haben, die Gesellschaft trägt dafür eine Verantwortung“, so Martina Geis.
Elterninitiativen und Vertreter von Kinderläden aus Ost und West trafen sich am Wochenende zu einer bundesweiten Tagung in Güntersberge. Über 100 Erwachsene diskutierten in Arbeitsgruppen und Workshops, 80 Kinder tobten durch das Erholungsheim und einstige Pionierlager im Harzer Wald. „Wir sind Initiatoren, keine Bittsteller. Dafür fordern wir Akzeptanz“, erklärte Madeleine Feiten von der Bundesarbeitsgemeinschaft Elterninitiativen (BAGE). Kinderläden im Westen wie im Osten befürchten, daß sie als „Lückenbüßer“ für eine verfehlte Politik herhalten müssen. Freiräume für Kinder gehen verloren, Betreuung wird zum Konsumartikel, der Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz überlastet die Kommunen. „Die Konsequenz ist“, so die von der Tagung geteilte Auffassung des BAGE-Sprechers Hannes Lachenmair, „daß Kinder unter drei und über sechs Jahre ausgegrenzt werden. Kleinkindergruppen werden nicht gefördert und Schulhorte ausgetrocknet.“
In Bremen werden bereits heute Eltern, die keinen Kita-Platz bekommen haben, aufgefordert, sich selbst zu kümmern und eine Elterninitiative zu gründen, jedoch ausdrücklich nur für Drei- bis Sechsjährige. „Elterninitiativen sind billiger, und Kita-Plätze lassen sich schnell schließen, wenn der Bedarf mal wieder nachläßt“, erläuterte eine Teilnehmerin aus dem Stadtstaat diese Strategie.
In Güntersberge wurden deshalb nicht allein pädagogische Konzepte diskutiert, sondern politische Forderungen erhoben: „Es geht uns um den Rechtsanspruch auf außerfamiliäre Betreuung für jedes Kind, dessen Eltern das wünschen“, faßte Lachenmair zusammen. Ein Modell seien die Kinderläden, die sich als „Lebensrahmen für Kinder und Eltern“ verstehen. Eltern sollen aus einer Vielzahl von Modellen auswählen können. Besonders in den neuen Bundesländern finden sich Eltern jedoch oft als Notbremse zusammen: Die drohende Schließung von Kindergärten läßt sich nicht anders verhindern. In einem Dorf bei Meißen (Sachsen) wurde der Kindergarten zunächst der Kirche angeboten. Als die absagte, blieb nur der Elternverein. Ob nun im sächsischen Dorf oder in der bayerischen Stadt, in Dresden oder Bonn, die BetreiberInnen von Kinderläden wollen an kommunalpolitischen Entscheidungen mitwirken. Eine Forderung des Treffens in Güntersberge lautete deshalb: Elterninitiativen in die Jugendhilfeausschüsse!
Vor über 25 Jahren entstanden im Westen Deutschlands die ersten Kinderläden, in den neuen Ländern wird diese Geschichte seit fünf Jahren wie im Zeitraffer nachgeholt. Madeleine Feiten von BAGE sprach von ihren Bedenken, „unsere Maßstäbe als die gültigen anzusetzen“, und Lachenmair weiß von einem „weitaus größeren gesellschaftspolitischen Anspruch“ der Ost-Kinderläden. Hingegen seien im Westen „politische Aspekte ein Stück weit verlorengegangen“.
Diesen Wandel eigener Ansprüche, die Tendenz zur Professionalisierung als „Errungenschaft und Gefahr“ bewerten die selbstorganisierten Läden durchaus kritisch. Wie auch die Bedingungen in den oft engen Räumen, die Auswahl der Kinder „nach der Nase“ der Eltern, die Konflikte zwischen Eltern als Arbeitgebern und ErzieherInnen als Arbeitnehmern, Resignation im ewigen Kleinkrieg um ein paar Fördermark, die „Harmoniesucht“, mit der Konflikte unter den Teppich gekehrt werden. Immer mehr Eltern „begleichen“ ihren Anteil am Projekt Kinderladen nur noch mit Geld und ignorieren auch die obligatorischen Elternabende. Eine Ursache stellte Ute Klingemann von der Kila-Initiative Hannover heraus: „So entziehen sie sich der Auseinandersetzung über ihre Ansprüche. Würden sie den Streit austragen, müßten sie feststellen, daß sie bereits Welten voneinander trennen.“ Detlef Krell, Güntersberge
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen