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Auf der Flucht vor der Schulmedizin

Auf Antrag der Uni-Kinderklinik Ulm wurde den Eltern eines leukämiekranken Kindes das Sorgerecht entzogen, weil sie sich einer erneuten chemotherapeutischen Behandlung widersetzten/ Vater floh mit Tochter zur Behandlung ins Ausland  ■ Von Klaus Wittmann

Markt Rettenbach/Tübingen (taz) Der Fall der dreijährigen leukämiekranken Katharina Scharpf aus Markt Rettenbach im Landkreis Unterallgäu hat auch im Ausland erhebliches Aufsehen erregt.

Wie berichtet, hatten der 33jährige Elektromeister Alban Scharpf und seine 29jährige Frau Hildegard ihre Tochter vor dem Zugriff der Behörden versteckt. Den Eltern war vom Vormundschaftsgericht in Memmingen auf Antrag der Uni- Kinderklinik Ulm das Sorgerecht entzogen worden, nachdem sie sich geweigert hatten, den sogenannten zweiten Block einer chemotherapeutischen Behandlung an ihrem Kind durchführen zu lassen. Nachdem der Vorgang auf erhebliches öffentliches Interesse gestoßen war, wurde ein Kompromiß zwischen den Eltern und ihrem Anwalt, Georg Meinecke aus Köln, und dem Jugendamt in Mindelheim ausgehandelt: Die Familie Scharpf erklärte sich bereit, ihr Kind in der Uniklinik Tübingen mit einer stark abgemilderten Form der Chemotherapie weiterbehandeln zu lassen.

Inzwischen hat der Fall aber eine dramatische Wende genommen. Wie Rechtsanwalt Meinecke uns mitteilte, ist der Vater mit seiner dreijährigen Tochter Katharina ins Ausland geflüchtet, um sich einer weiteren Verfolgung zu Zwecken der chemotherapeutischen Behandlung zu entziehen. Für Meinecke ein bislang in der Bundesrepublik einmaliger Fall. Bei der Familie Scharpf handele es sich um verantwortungsvolle Eltern, die nach mehr als zwanzig zytostatischen Behandlungen einfach den Erfolg dieser Methode anzweifeln und ihr Kind anderweitig ärztlich behandeln lassen wollen. Die freie Wahl der Behandlungsmethode sei ein Grundrecht und der Eingriff durch Sorgerechtsentzug verfassungswidrig. Die Ärzte hingegen halten den Abbruch der Behandlung für unverantwortlich. Für die kleine Katharina bestünde bei der angewandten zytostatischen Behandlung eine „neunzigprozentige Heilungschance“. Alternative Methoden würden jedoch „mit Sicherheit zum Tode des Kindes“ führen. Es sei somit einfach nötig gewesen, den Eltern das Sorgerecht abzuerkennen, „weil jeder Tag, den wir verstreichen lassen, die Überlebenschancen um ein Prozent sinken läßt“, rechtfertigt der Leiter der Kinderklinik an der Ulmer Universität, Professor Dr. Enno Kleihauer, den Gerichtsbeschluß.

Katharina wird inzwischen an einer renommierten Fachklinik im Ausland behandelt, sagte Rechtsanwalt Meinecke. Der Anwalt ist von den Eltern beauftragt, jeden erforderlichen rechtlichen Schritt einzuleiten, der zur Wiedererlangung des Sorgerechts erforderlich ist, also gegebenenfalls auch eine Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht. „Sehen Sie, ich hatte schon die Zusage des Memminger Richters, daß der Sorgerechtsbeschluß aufgehoben wird, nachdem das Kind in Tübingen eingeliefert wurde. Leider ist diese Zusage nicht eingehalten worden.“

Hildegard und Alban Scharpf haben das Vertrauen in die Schulmedizin verloren. Erschüttert hat Hildegard Scharpf die Folgen der erneuten zytostatischen Behandlung an ihrer Tochter aufgenommen. Als das Kind nach fünf Behandlungstagen aus Tübingen zurückkam, seien die Lippen aufgeplatzt, im Mund hätten sich die Schleimhäute abgelöst, außerdem hätte Katharina die ganzen Tage über nichts essen können vor Schmerzen. „Das machen wir unter keinen Umständen mehr mit“, sagte sie. „Katharina hat inzwischen eine Art epileptischer Anfälle, sie krümmt sich, schlägt mit den Händen und Füßen um sich. Unser Kind ist doch für die bloß ein Spielball, ein Versuchskaninchen.“ Inzwischen sei ihre Tochter so eingeschüchtert, daß sie sich kaum mehr in den Garten traue, aus Angst davor, daß wieder Männer kämen, die sie abholen wollten, sagt Hildegard Scharpf in Anspielung auf den Besuch des Jugendamtes vor knapp vier Wochen. Damals sollte das Kind zur Zwangsbehandlung nach Ulm abgeholt werden. Vater Alban Scharpf hatte jedoch zu diesem Zeitpunkt das Kind bereits versteckt.

In drastischen Worten hat Alban Scharpf seine Flucht ins Ausland begründet. Er spricht von „einem Mord auf Raten“, der an der kleinen Katharina begangen werde. Die Schäden, die an dem Kind bereits zu sehen seien, hätte er einfach nicht mehr ertragen können. Und auch die Mutter des Mädchens, die sich daheim um ihren sechs Monate alten Sohn kümmert, bestätigt erneut, daß bei ihrer Tochter auch mikroskopisch keine Leukämie mehr nachzuweisen sei. „Wir tun alles für unser Kind, aber zu dieser Chemotherapie lassen wir uns nicht mehr zwingen, um nichts auf der Welt.“ Nach Vater und Tochter wird derzeit jedoch nicht gefahndet, sagte Karl Bihler vom Jugendamt beim Landratsamt Mindelheim. „Wir wollen keine weitere Unruhe in den Fall bringen und warten auf die Entscheidung des Vormundschaftsgerichtes.“

Gegen den anfänglichen Widerstand der Familie Scharpf ist inzwischen, nach zahlreichen Anfragen, ein „Sonderkonto Katharina“ bei der Sparkasse Ottobeuren eingerichtet worden (Konto-Nr. 190 85 65 00 (BLZ 731 50 000).

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