Auf dem Piratenspielplatz steht eine Zauberrutsche. Ich weiß, warum: Die Geschichte von Dig und Digga
AM RAND
Klaus Irler
Spielplätze sind Orte, an die manche erwachsene Menschen nie und andere nahezu täglich kommen. Ich gehöre gerade zur zweiten Kategorie. Das wird sich irgendwann ändern und vermutlich verliere ich dann den Draht zu Spielplätzen, aber jetzt ist er da, jetzt kenne ich jeden Spielplatz am nördlichen Stadtrand und jedes Graffiti an den Spielgeräten.
Besonders gut gefällt mir der gesprayte Schriftzug auf dem Piratenspielplatz: „In Hamburg sagt man Digga.“ Ich denke mir dann immer: In Hamburg vielleicht. Aber hier, wo die Pferde grasen und nach Schleswig-Holstein blicken, da sagt man „Tschüss“. Man sagt „Tschüss“, kuckt HSV und fühlt sich nicht als Hamburger, sondern als Niendorfer.
Der Piratenspielplatz liegt am Kollauwanderweg und heißt „Piratenspielplatz“, weil auf ihm ein Schiff steht, von dem nur die obere Hälfte zu sehen ist. Das Schiff ist im Jahr 1987 im Sand untergegangen. Kapitän Dig und seine Mannschaft waren gerade auf der Fahrt von Feuerland über die Kollau zum Nordkap, als sie ein norddeutscher Sandsturm überraschte. Der Sandsturm legte das Flussbett trocken und verschüttete das Schiff, sodass nur noch der Bug und der Ausguck aus dem Sand ragten.
Die Freiwillige Feuerwehr hat damals noch dagegengehalten, mit zwei Tanklöschfahrzeugen versuchte sie, die Fahrrinne mit Wasser zu füllen. Aber die jeweils 1.600 Liter aus den Wassertanks reichten nicht. Kapitän Dig und seine Mannschaft mussten kapitulieren: Das Schiff war am Ende und der Besatzung blieb nichts anderes übrig, als direkt daneben, auf diesem Flecken Erde zwischen Flughafen und A7, eine Siedlung zu errichten.
Die Piraten von Kapitän Dig bauten eine Hütte auf Stelzen, damit sie nicht nass werden konnten im Hamburger Winter. Sie bauten eine Seilbahn zur Flucht vor den Vorstadt-Hunden und den Moskitos. Und sie bauten eine Schaukel für alle, die das Meer vermissten – viele aus der Mannschaft von Kapitän Dig vertrugen es nicht, ständig festen Boden unter den Füßen zu haben.
Kapitän Dig wusste, dass dieses Leben nicht ewig so weitergehen konnte. Er beschloss, Hilfe zu holen: Er telegrafierte nach Feuerland und bat seinen Bruder Digga, den Bauplan der feuerländischen Zauberrutsche zu schicken. Mit der Zauberrutsche konnte man zu jedem beliebigen Ort rutschen. Man musste sich nur oben auf der Rutsche vorstellen, wo man unten ankommen wollte – und da landete man. Als die Rutsche fertig war, ließ Kapitän Dig seine Leute rutschen und rutschte zuletzt selbst. Er dachte, alle würden sich am Nordkap treffen und dort ein Fest feiern. Aber Kapitän Dig war der einzige, der sich ans Nordkap gewünscht hatte. Seine Leute waren in alle Winde zerstreut. Nur das Schiff am Kollauwanderweg blieb da, wo es war.
Immer wenn ich auf dem Piratenspielplatz bin, besteige ich den Ausguck und schaue nach Süden, weil ich damit rechne, dass Digs Bruder Digga die Kollau hochgefahren kommt, um zu sehen, was aus Dig geworden ist. Letzte Woche war Digga noch nicht da. Aber der Frühling hat ja erst begonnen.
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