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Archiv-Artikel

Auf dem Dach der Welt

„Bergpassion – Eine Frau ganz oben“ (23.15 Uhr, WDR): stilles, aber intensives Porträt einer Extrembergsteigerin

Gerlinde Kaltenbrunner geht dahin, wo es wehtut. Auf den Kangchenzönga zum Beispiel, Nepal, Himalaja, 8.586 Meter über dem Meer. 2003 hat sie schon einmal den Aufstieg versucht, vergebens. Heftige Stürme verwehrten ihr die Spitze. Beim zweiten Versuch, drei Jahre später, begleitet sie eine Handycam. Digitale Bilder, für die eigens zwei Solarstromaggregate in das Basislager auf 7.700 Höhenmeter geschleppt wurden. Wir ahnen es: „Bergpassion – Eine Frau ganz oben“ ist ein anstrengender Film. Und doch auch wieder nicht. Denn dem Dokumentar- und Bergfilmer Victor Grandits gelingen intime und vor allem nie pathetische Bilder.

In den Maßeinheiten des Bergsteigerfilms gemessen: Grandits verfällt weder alpinistischen Heldenmythen und Abenteuergeschichten, noch begreift er seine Arbeit als Kamerasport, hängt er steil in der Wand für immer krassere Perspektiven. Stattdessen ist er ganz nah bei den Menschen – ihre Atemgeräusche bilden über weite Strecken den Soundtrack des Films.

Ohnehin sind es die Worte, die „Bergpassion“ tragen. Und umgekehrt das, was weder zu sehen noch zu sagen ist. Das Gehirnödem im Kopf eines japanischen Kollegen zum Beispiel – Auswirkung der dünnen, sauerstoffarmen Luft dort oben auf dem Dach der Welt. Für wenige, nie voyeuristische Momente hat die Kamera den Tod vor Augen. „Bevor ich irgendwann daheim leidig ums Leben komme, möchte ich lieber auf dem Berg bleiben“, wird Gerlinde Kaltenbrunner an späterer Stelle sagen. Gerade sind zwei Sherpas und ein französischer Bergsteiger einer anderen Seilschaft an ihnen vorbei und tausend Meter weiter in die Tiefe gestützt. Morgens im Basislager hatte man sich noch gemeinsam die Zähne geputzt. Jetzt bedecken ihre Körper ein paar sturmfeste Biwakplanen.

Mit dem Pfarrer ist Gerlinde Kaltenbrunner zum ersten Mal in die Berge gegangen. Damals als Dreizehnjährige immer sonntags nach dem Gottesdienst in Oberösterreich. Heute würde die 1970 geborene Extrembergsteigerin die Hügel von einst wahrscheinlich nicht einmal mehr Berge nennen. Als erste Frau der Welt hat sie neun Achttausender ohne Sauerstoffmaske bestiegen. Irgendwann werden es alle vierzehn sein. Wenn nichts dazwischenkommt. „Es ist einfach so, dass ich mich auf den Bergen sauwohl fühl, eine tiefe, arge Zufriedenheit.“

Sucht mögen das manche nennen. Eine Sehnsucht ist es in jedem Fall. Aber Gerlinde Kaltenbrunner bleibt ganz bei sich, wenn sie von ihren Gipfeln und ihren Gefühlen erzählt. Da ist nichts Prahlendes in ihren Worten, kein Abenteurer-Jargon. Wahrscheinlich muss sich jemand, der so oft so weit oben war, nicht mehr selbst überhöhen. CLEMENS NIEDENTHAL