Auf Wandertour in Norwegen: Allein in der Bergwildnis
Einsame Wanderrouten in wilder Naturlandschaft. Wer Natur sucht, bekommt sie im Nationalpark Rondane in Norwegen beinahe ungeschminkt.
Ab und zu spritzen mir Tropfen ins Gesicht, von der heftigen Regenflut, die das Zelt förmlich bombardiert. Es steht auf dem am wenigsten durchnässten Platz, trotzdem überwiegt das Wasser gegenüber dem Erdboden. Es sickert schon durch. Notdürftig habe ich ein T-Shirt über meinen Schlafsack gebreitet und versuche, immer schön mittig auf der Isomatte liegen zu bleiben. Wie eine Schiffbrüchige, die, an ein Brett geklammert, auf dem Meer treibt.
Gerne zu wandern, ist eine Sache. Ein paar Blasen bedeuten Leiden, lassen sich aber meist mit der schönen Landschaft kompensieren. Abends, nach einem opulenten Essen im Gasthaus, gibt es nichts Besseres, als mit einem wohligen Seufzer ins weiche Kissen zu sinken. Hat man sich ja auch verdient.
Abenteurern hingegen reicht dieses Genusswandern nicht. Sie wollen mehr, als nur die Seele baumeln zu lassen. Zu solchen Freaks zähle ich mich zwar nicht, aber abends zum Rauschen eines Wasserfalles einzuschlafen und morgens bei Vogelgezwitscher aufzuwachen – das möchte ich auch erleben.
Allein sein mit Berg und Wald, so wie es früher war, wenn Wanderer „ihr Bündel schnürten und der Welt den Rücken kehrten“. Für solche Touren „into the Wild“ ist, wenn man Europa nicht verlassen möchte, Norwegen die richtige Adresse – genauer gesagt das nördlich von Lillehammer beginnende Rondane. Zwar zählt es mit seiner maximalen Ausdehnung von 50 Kilometern zu den „Zwergen“ unter den skandinavischen Gebirgsarealen. Mit Zug und Bus relativ gut erreichbar, eignet es sich dennoch hervorragend für eine Premiere in Sachen „Zurück zur Natur“.
Anreise: Ab Kiel per Schiff direkt nach Oslo: (www.colorline.de) oder per Flugzeug mit SAS oder Lufthansa mehrmals wöchentlich direkt von Frankfurt nach Oslo. Weiterreise mit Bahn oder Bus nach Ringebu oder Otta, von dort aus verkehren ab Anfang Juli Busse ins Gebirge.
Um Hütten zur Selbstbewirtschaftung zu nutzen, braucht man einen DNT-Standardschlüssel. Er wird nur an Mitglieder des DNT verliehen. Kontakt über www.huettenwandern.de
Beim Wildzelten schreibt das Jedermannsrecht 150 Meter Mindestabstand zu Gebäuden vor.
Reisezeit: Vom 1. Mai bis 10. Juni bleiben die Hütten geschlossen, weil die Rentiere kalben. Die mittleren Lagen des Rondane sind wegen der lang andauernden Schneeschmelze normalerweise von frühestens Mitte Juni bis Ende September begehbar.
Allgemeine Infos: Norwegisches Fremdenverkehrsamt: www.visitnorway.com
Wenn Greenhörner wie ich zum ersten Mal in ihrem Leben einfach in die Bergwildnis ziehen, mit allem auf dem Rücken, was man so braucht, aber ohne Begleitung und ohne Handyempfang, dann beruhigt einen jedes noch so kleine Zeichen menschlicher Anwesenheit – für mich ist es das mit roter Farbe auf Felsstücke oder Stämme gekleckste „T“. Es strahlt Verlässlichkeit aus: Dieser Weg ist zwar einsam, aber immerhin eine offizielle Wanderroute.
Norwegische Wanderwege
Christoph Habert, der unten im Tal zusammen mit der Malerin Cecilie Bjercke ein exklusives Gästehaus führt, hat mich allerdings aufgeklärt. Mit meinem Sicherheitsbedürfnis zähle ich nach hiesigen Maßstäben zu den Weicheiern. „Norweger haben ein anderes Verhältnis zu Wanderwegen als wir Deutsche“, erzählt er. In den lebhaftesten Farben schilderten ihm Nachbarn ihre bevorzugten Wanderstrecken. Also schnürte der Hotelier seine Bergstiefel, um diese Geheimtipps auszuprobieren.
Fehlanzeige. Kein einziges Mal fand er diese Wege. „Welche Wege?“, wunderten sich seine Bekannten, als er die Sprache darauf brachte. Inzwischen hat der ehemalige Frankfurter Banker resigniert: „Norwegische Wanderlustige stellen eben einfach ihr Auto ab und gehen los. Sie steigen sicher an den tollsten Stellen auf, da würden wir gar nicht drauf kommen.“
Trotzdem, auch nach dem markierten Anstieg von Rondetunet aus fühle ich mich, umgeben von Wäldern und Höhen, schon mittendrin. Ein Vogel krächzt, der Wind weht leicht. Das kann doch nur gut werden. Die Region ist reich an Bächen und Seen mit sauberem Wasser. Das hilft, denn gerade bei mehrtägigen Touren mit Zelt sowie Kochutensilien liegt das Gewicht des Rucksacks mit 16 bis 18 Kilogramm schnell am Limit: Nie mehr als ein Viertel des Körpergewichts durch die Berge buckeln, sagen die Experten.
Willkommen im Fjell
Das Wasser macht es mir aber auch schwer. Besonders nach der Schneeschmelze, die bis in den Sommer hinein dauert, bleibt es leider selten dort, wo es auf der Karte verzeichnet ist. Es verästelt sich zu Rinnsalen oder unterminiert den moorigen Boden. Schwingend federt der Pfad meine Tritte ab, dann schwappt und schlürft braune Suppe um die Wanderstiefel. Hüfthohe Zwergstrauchheiden rechts und links dirigieren mich immer wieder in den Matsch. Sie fühlen sich sichtlich wohl auf dem fruchtbaren Untergrund, ebenso wie die blassgrünen Rentierflechten und vielfältigen Moose, manche von ihnen mit rötlichen zarten Peilsendern als Blüten.
Willkommen im Fjell, scheinen die Mücken zu surren. Plötzlich sind sie da, umschwirren freudig und erstaunlich fettleibig den Menschen, der hier besonders zu Beginn des Sommers Seltenheitswert besitzt. Das Wörterbuch übersetzt Fjell schlicht mit Berg oder Felsen, dabei heißt in Norwegen so ziemlich alles, was nicht gerade zu Feldern, Wiesen, Forsten oder zur Küste gehört, so. Also ziemlich viel, denn nur drei Prozent der gesamten Landesfläche wurden überhaupt kultiviert. Der Rest ist Wildnis.
Auf der Alm Midtbrennsætra stemmt sich ein aus klobigen Balken errichtetes Gebäude mit seinem Steinfundament dem Hang entgegen. Niemand ist hier. Auch morgen wird niemand hier sein, denn der Himmel zieht sich konsequent zu.
Hinter der Alm beginnt das Nationalparkgebiet. Es war 1962 die erste von der norwegischen Regierung eingerichtete Schutzzone dieser Art. Dabei ging es vornehmlich um die zwei- bis viertausend Wildrene, die durch das Rondane sowie das benachbarte Dovrefjell streifen. Sie sollen Schutz und Ruhe beim Kalben genießen, weshalb sogar Wanderrouten verlegt wurden. Außerdem vergrößerten die Behörden den Nationalpark 2003 noch einmal – vergeben aber nichtsdestotrotz zur Rentierjagd im Herbst rund 5.000 Lizenzen.
Rutschige Stege
Etwa zeitgleich, wenn die Schäfer ihre blökenden Herden in die Berge treiben, um sie dort sich selbst zu überlassen, montiert der norwegische Wanderverein Den Norske Turistforeningen (DNT) Sommerbrücken über Flüsse und öffnet seine Berghütten. Viele Routen werden durch die Arbeit des DNT überhaupt erst für jemanden wie mich begehbar. Absicherungen, Wegweiser oder bequeme Übergänge bleiben jedoch Raritäten: Wer Natur will, bekommt sie weitestgehend ungeschminkt. Der schwere Rucksack beeinträchtigt die Balance auf dem provisorischen, rutschigen Steg über einen Bach. Im nächsten Augenblick überspült eiskaltes Wasser meine Beine. Wie ging das so schnell? Ich angele nach den Trekkingstöcken, bevor sie mit der Gischt bergab sausen.
Schmerzen habe ich zum Glück nicht. Hilf dir selbst, so hilft dir Gott – das ist ganz offensichtlich ein norwegisches Motto. Also einmal tief durchatmen und die Böschung hinauf, um sich anschließend warm zu laufen. Zumindest bis sich der Pfad zwischen Sträuchern verliert. Er ist auf einmal einfach nicht mehr da. Auf der anderen Seite des Baches leuchtet die letzte Markierung. Wildwechsel, womöglich von äsenden Elchen gebahnt, enden in struppigem Wucherwuchs. Zum Teufel, wo ist der Weg? Die Natur ist nicht länger schön, das Abenteuer schickt keine leise prickelnden Schauer mehr über meine Haut. Mich zukünftig von Würmern und Beeren zu ernähren, das sollte bestimmt nicht Teil dieses Feldversuches werden.
Eigentlich hört man immer wieder, der Wanderverein kümmere sich sehr gründlich um die Kennzeichnung der Routen. Alle zwei Jahre würden sie kontrolliert und das Gebüsch zurückgeschnitten, berichtete mir die Mitarbeiterin Bella Engen. Die 38-Jährige hat etliche Jahre in Freiburg gelebt. Wieder zu Hause, nahm sie an einem DNT-Kurs teil, damit sie ehrenamtlich bei der Markierung der Wege helfen kann. „Wir transportieren die rote Farbe in Ketchup-Flaschen und mit Henkeln versehenen Bierdosen, bei denen der obere Teil abgetrennt wird. Damit frischen wir verblasste Wegmarken auf oder malen sie neu. Regelmäßig schichten wir auch Steintürmchen auf, denn von Weitem sind sie oft noch besser zu sehen als die T-Zeichen.“
Rot verzierte Steine
So viel Umsicht. Aber tatsächlich, auch „in meinem Fall“ hat sie gewaltet. Ein gutes Stück oberhalb von Steg und Pfad leuchten rot verzierte Steine an beiden Bachufern. Noch mal Glück gehabt. Aber der Schrecken, mich im Nichts verirrt zu haben, sitzt mir in den Knochen.
Es beginnt heftig zu schütten, und die kleine Lichtung der Alm Fagerli steht bald unter Wasser. Bloß am Rand, zwischen hohem Schilf, findet sich noch ein Platz zum Campen, der „nur“ morastig ist. Die ganze Nacht drischt der Regen wie verrückt auf meine Behausung ein. Ich träume von einem Haus, mit einem Sessel vorm Kaminfeuer.
Von der Schneeschmelze und den heftigen Güssen angeschwollen, haben sich Bäche zu knietiefen Flüssen verbreitert. Einer Bergkuppe folgt die nächste. Angetaute Schneefelder verstecken den Weg. Mit einem Blick auf ihre Zungen, die unter meinem Gewicht brechen könnten, umrunde ich sie und nehme dafür Umwege in Kauf. Der Rucksack drückt. Langsam, tastend geht es voran, denn das Schlimmste wäre ein Fehltritt, nach einem Unfall verletzt liegen zu bleiben.
Schließlich, nach steilem Abstieg hinunter zur Alm Musvolsætra, lauschen ein paar Schafe allen Klagen, die sich angestaut haben. Das Experiment „Into the Wild“ nähert sich – im Gegensatz zu Christopher McCandless’ Geschichte – seinem guten Ende. Bis zur Berghütte Bjørnhollia ist es nicht mehr weit. Sie soll den besten Trockenraum im gesamten Rondane besitzen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Nach dem Anschlag von Magdeburg
Wenn Warnungen verhallen
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Schäden durch Böller
Versicherer rechnen mit 1.000 Pkw-Bränden zum Jahreswechsel
Aufregung um Star des FC Liverpool
Ene, mene, Ökumene