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■ Auf AugenhöheDie Legende hat sich überlebt

Mit Legenden ist es wie mit den Scheinriesen bei Jim Knopf und Lukas, dem Lokomotivführer. Je näher man ihnen kommt, desto unweigerlicher schrumpfen sie auf Normalgröße. Als ich mich vor zehn Jahren auf die Spuren der Ostberliner Opposition machte, waren nicht nur die Namen einiger Prominenter Legende, sondern auch die Umweltbibliothek am Zionskirchplatz in Berlin-Mitte, der von den meisten Wessis aus Gründen der Legendenbildung kurzerhand dem Prenzlauer Berg zugeschlagen wurde. Und dann das: eine unscheinbare Seitenstraße namens Griebenowstraße, ein unscheinbares Hinweisschild, aber keine unscheinbaren Männer in noch unscheinbareren Mänteln. Mir schien, als hätte sich die Legende aus dem Staub gemacht, bevor ich sie zu sehen bekam.

Christoph Dieckmann muß es gewußt haben. „Jetzt werden wir alle, wie wir sind“, orakelte der Ostberliner Publizist schon kurz nach der Wende. Es wurde: Bärbel Bohley das schlechte Gewissen von Altbundeskanzler Kohl; Günter Nooke ausländerpolitischer Abfangjäger der CDU; Vera Lengsfeld die Rächerin der von der PDS Enterbten und Wolfgang Templin der Lieblingsnationale der Grünen. Die Umweltbibliothek wurde: geschlossen. Was die Stasi nicht schaffte, regelt nun das Finanzamt, haben einige mit Hinweis auf die 20.000 Mark Schulden, die die libertäre Legende inzwischen angehäuft hatte, bitter angemerkt. Warum sagt keiner: Die Bibliothek hat sich überlebt, wie sich auch die politische Bedeutung der Bohleys, Nookes, Lengsfelds und Templins überlebt hat.

Neulich war ich wieder im „LSD-Viertel“ in Prenzlauer Berg, in dem die Umweltbibliothek zuletzt ihren Sitz hatte. „LSD“ steht im anarchistischen Volksmund für das Quartier rund um die Lychener-, Schliemann- und Dunckerstraße. Es könnte auch heißen: Leerstand, Schmutz und Drogen. Noch während sich die Opposition-Gebliebenen mit der Archivierung ihrer selbst beschäftigten, änderte vor ihrer Haustür der Kiez sein Gesicht. In der Diktatur des Kapitals wird man nicht mehr verfolgt, sondern links liegengelassen. Oder zum Problemfall im Problemquartier erklärt.

Probleme machen auch die Alten in der „Herbstlaube“. Den Oppositionellen von einst, weil sie die PDS nicht der Lüge strafen, sondern beim Wort nehmen. Und den Politikern von heute, weil die Mitglieder des Seniorenclubs mehr noch als der PDS ihrer eigenen Stimme trauen und manchmal sogar Straßenkreuzungen besetzen, um neue Ampeln zu fordern. Auch die Alten sind geworden, wie sie sind. Nur waren sie vorher keine Legenden. Uwe Rada

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