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Auch die SED-Führung las mit

Demnächst erscheint die 100. Ausgabe der „Stacheligen Argumente“. Die Zeit der harten Debatten beim bündnisgrünen Parteiblatt sind vorbei  ■ Von Severin Weiland

Das Heft flattert alle zwei Monate auf den Tisch der taz-Politredakteure. 48 Seiten, auf grauem Umweltschutzpapier, Fotos sind rar gesät, die Texte dementsprechend lang. Die Stacheligen Argumente, das Parteiblatt der Berliner Bündnisgrünen, fordert dem beruflichen Kostgänger Nachsicht ab. Trotz des Erscheinungsbildes hat das Blatt überlebt – übrigens als einziges der bündnisgrünen Landesverbände.

In diesen Wochen feiern die Stacheligen Argumente das Erscheinen der 100. Ausgabe. Die Geburtsstunde des Blattes liegt zwölf Jahre zurück. Zuvor hatte die damalige Alternative Liste Westberlins den Mitgliederrundbrief herausgegeben, eine eher willkürlich zusammengestellte und geheftete Loseblattsammlung.

Doch die Partei wuchs und damit ihre Ansprüche: Im Mai 1984 erschienen die Stacheligen Argumente zum ersten Mal unter ihrem Namen als Nummer 24 des früheren Rundbriefes. Schon ein Jahr darauf wählte die Partei eine Redaktion, damals für viele basisdemokratische Mitglieder der gerade Weg ins Establishment. Heftig sei diese Entscheidung umkämpft worden, erinnert sich Jochen Esser, der schon damals dabei war und noch heute mitarbeitet. Doch dann glätteten sich die Wogen schnell. „Vielleicht lag es daran, daß es schon damals keiner las oder alle mit der Auswahl zufrieden waren“, scherzt der 45jährige Esser.

Mit der Zeit änderte sich der Blick. „Der Anteil der Artikel über die Dritte Welt ist eindeutig zurückgegangen“, stellt Jutta Maixner fest, einst Fraktionspressesprecherin unter Rot-Grün. Nachgelassen hat auch die Heftigkeit, mit der in den Anfangsjahren gestritten und gezankt wurde. Mit dem Auszug der fundamentalistischen Kräfte aus der Partei sei es merklich ruhiger geworden, so Maixner.

Heute wird die vom Landesausschuß gewählte sechsköpfige Redaktion, wie Jochen Esser ironisch anmerkt, von den Ostberliner Mitarbeitern auf strengen Pragmatismus verpflichtet. „Wir Westler leiden unter der Diktatur der antitotalitären Kräfte und ihrer Ordnungsvorstellungen: Pünktlicher Beginn und ordentliche Sitzordnung.“

Die deutsche Einheit wurde schon bei den Stacheligen Argumenten diskutiert, als das Thema bei vielen Linken noch als Ausgeburt reaktionärster Politik galt. Im September 1984 landete das Blatt dann mit einem Schwerpunkt zur Deutschlandpolitik seinen großen Coup: die Ausgabe, die provokativ mit einer Deutschlandkarte in den Grenzen von 1937 auf brauner Pappe erschien, erregte Aufsehen auch im Ausland. Alain de Benoist, französischer Theoretiker der Neuen Rechten, wurde damals Abonnent. Aber auch die DDR- Führung war stets im Bilde, wohin sich das alternative Spektrum entwickelte. Sowohl das ZK der SED wie auch das Außenministerium der Arbeiter- und Bauernmacht verfolgte via Stachel den innerparteilichen Streit.

Verlegerische Ziele gab es manche. Dirk Schneider, der später als Stasi-IM enttarnt wurde, schlug sogar den Verkauf am Kiosk vor. Doch davon habe man dann schließlich die Finger gelassen, erzählt Maixner. Von der monatlichen Erscheinungsweise verabschiedete man sich bald. „Das war kräftemäßig nicht zu schaffen“, so Jochen Esser. So wurde auch die Zahl der Seiten im Laufe der Zeit von 64 auf 48 reduziert. Doch Esser ist sich sicher: „Die taz überleben wir allemal.“

Die Partei, die als eines ihrer großen Ziele die Gleichberechtigung propagiert, müßte erröten, wenn sie das eigene Hausblatt (Auflage 4.000) zum Maßstab machen würde. Wie anderswo auch sind es gerade die Parteimänner, die die Welt mit ihren Ansichten beglücken. Bei einer kürzlichen Zählung landeten gleich drei Vielschreiber auf den ersten drei Plätzen: Gold sicherte sich Jochen Esser mit 36 Artikeln, Silber der gesundheitspolitische Sprecher der Fraktion, Bernd Köppl, und schließlich Bronze der unter Rathausreportern gefürchtet Faxkönig Michael Cramer, seines Zeichens Verkehrsexperte. Nur zwei oder drei Frauen seien unter den ersten zwölf gewesen, faßt Esser zusammen. Das sei schon ein bißchen „merkwürdig“.

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