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AtomkraftWatt-Wahn im Wannsee-Wald

Vor mehr als einem halben Jahrhundert wäre in Westberlin beinahe das erste Kernkraftwerk des Kontinents gebaut worden. Eine Geschichte aus den Jahren der Atom-Euphorie.

Statt der Atomkraft frönt man am Wannsee heute den Winden. Bild: dpa

Die strahlende Zukunft Westberlins sollte auf dem Boden einer ehemaligen Kiesgrube beginnen. Nahe der Glienicker Brücke, im Wald am Wannsee, fast direkt an der Grenze zur DDR, wäre ab Ende der 1950er Jahre fast Deutschlands erstes Atomkraftwerk errichtet worden. Das Vorhaben nahm bereits konkrete Formen an, bevor es 1962 an politischen Bedenken scheiterte. Diese heute unvorstellbaren Pläne beschäftigten damals zwei Jahre lang Berliner und Bonner Politik. Sie illustrieren nicht nur die Besonderheiten des geteilten Berlins, sondern auch die Euphorie zu Beginn des Atomzeitalters.

Die Bewag, der landeseigene Stromversorger, plante ab 1959, einen Druckwasserreaktor der US-amerikanischen Firma Westinghouse nahe dem alten Ortskern von Wannsee zu errichten. Das für damalige Verhältnisse mit 150 Megawatt vergleichsweise große Kraftwerk sollte in direkter Nachbarschaft zum Forschungsreaktor des Hahn-Meitner-Instituts entstehen, der 1958 in Betrieb ging – nur wenige hundert Meter vom Griebnitzsee entfernt. Am anderen Ufer, wo Potsdam beginnt, fuhren die DDR-Grenzposten Streife.

So abgelegen war der Standort also gar nicht: In einem 3-Kilometer-Radius um das geplante Kraftwerk lebten damals laut Sicherheitsbericht der europäischen Atomgemeinschaft Euratom rund 45.000 Menschen, im Umkreis von 15 Kilometern waren es bereits 420.000 Anwohner. Doch der Standort wurde während der Planungen nie ernsthaft in Frage gestellt.

Strom für die Halbstadt

Entstanden war die Idee, in Westberlin ein Atomkraftwerk zu bauen, aus zwei Gründen, beide politischer Natur. Zum einen versprach die Atomenergie das Ende der Abhängigkeit von der Kohle mit ihren Transportproblemen. Die Halbstadt musste ihren gesamten Strom selbst erzeugen, Leitungen ins Bundesgebiet gab es nicht. Die Kohle für die Kraftwerke wurde aus dem Ruhrgebiet herangeschafft, die Blockade von 1948 war noch frisch in Erinnerung. Die Flugzeuge der alliierten Luftbrücke transportierten dabei zum Großteil Kohle, waren also letztlich gar keine „Rosinenbomber“.

Zum anderen war Westberlin in den 1950er- und 1960er-Jahren das Symbol des Kalten Krieges schlechthin, von Westdeutschland und den USA hoch subventioniert und durch massive alliierte Militärpräsenz gesichert. Das erste kommerziell genutzte Atomkraftwerk des Kontinents dort zu errichten wäre eine beeindruckende Demonstration technischer Macht und Überlegenheit in der Blockkonfrontation gewesen.

US-Präsident Dwight D. Eisenhower hatte am 8. Dezember 1953 vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen das Programm „Atoms for Peace“ (Atome für den Frieden) angestoßen: „Die Vereinigten Staaten wissen, dass es kein Zukunftstraum mehr ist, aus der Atomenergie Kräfte für friedliche Zwecke zu gewinnen. Die erwiesene Möglichkeit dazu besteht jetzt – hier – heute.“

Die USA wollten bei ihren Verbündeten den Einstieg in die zivile Atomenergienutzung fördern. Zunächst stellten sie spaltbares Material für Forschungsreaktoren zur Verfügung, auch für den „Berliner Experimentier-Reaktor“ des damaligen Hahn-Meitner-Instituts (heute: Helmholtz-Zentrum Berlin). Ab 1958 unterstützten die USA auch den Bau von kommerziellen Kernkraftwerken, sogenannten Leistungsreaktoren, mit finanzieller und technischer Hilfe über die Europäische Atom-Gemeinschaft (Euratom). 350 Millionen Dollar stellten die Vereinigten Staaten zur Verfügung – davon 135 Millionen Dollar als langfristigen Kredit –, mit denen die Europäer amerikanische Reaktoren kaufen konnten.

So selbstlos, wie das Angebot auf den ersten Blick schien, war es keineswegs. Die US-Regierung wollte so die heimische Atomindustrie fördern. Denn die neue Technologie rechnete sich einfach nicht. Gerade für ein Land wie die USA mit großen Kohle- und Ölvorkommen war die Energiegewinnung aus fossilen Brennstoffen viel kostengünstiger. Um nun überhaupt Erfahrungen mit der Atomkraft zu sammeln, sollten US-amerikanische Firmen die Chance auf subventionierte Aufträge aus Europa bekommen.

Für den Westberliner Energieversorger war das Euratom-Angebot finanziell überaus interessant, wie aus einem internen Vermerk hervorgeht: Von den mutmaßlichen Baukosten des Kraftwerks in Höhe von rund 200 Millionen D-Mark hätte die Bewag nur 25 Millionen D-Mark beisteuern müssen. Der Rest wären Beihilfen von Euratom und der Bundesregierung gewesen. Ab 1959 trieb die Bewag die Vorbereitungen ernsthaft voran. Der Regierende Bürgermeister Willy Brandt (SPD) war als Vorsitzender des Aufsichtsrats von Anfang an über die Pläne informiert.

Doch trotz des Schnäppchenpreises und der politischen Unterstützung sah man das Projekt Atomkraftwerk innerhalb der Bewag kritisch, wie aus dem Vermerk ebenfalls hervorgeht: „Wägt man das Für und Wider miteinander ab, kann man wohl sagen, daß das Projekt für die Bundesrepublik zweifelsohne zu propagieren ist, für Berlin scheint es gewagt.“ Und dennoch setzten das Unternehmen und die Politik in den nächsten zwei Jahren viel Energie daran, das Projekt auf den Weg zu bringen.

An technischen Bedenken wäre der Wannsee-Meiler nicht gescheitert. Die Sicherheit schien nach damaligen Maßstäben gewährleistet. Den stadtnahen Standort stellte keine Kontrollbehörde in Frage. Die Euratom kam in einem am 22. Dezember 1960 veröffentlichten Sicherheitsbericht zu dem Schluss, „daß ein Reaktor dieser Bauart an dem vorgesehenen Standort gebaut und betrieben werden kann, ohne daß die Gesundheit und Sicherheit des Betriebspersonals und der Allgemeinheit in unzumutbarer Weise gefährdet werden“. Und im Oktober 1961 urteilten die Prüfer der Vereinigung der Technischen Überwachungsvereine: „Die Arbeitsgruppe hat gegen die Wahl des Standorts für den Bewag-Reaktor sicherheitstechnisch keine Bedenken.“

Das hätte das grüne Licht für den Reaktor sein können. Auch Bundesatomminister Siegfried Balke (CSU) befürwortete nun die Kofinanzierung des Projektierungsauftrags an Siemens mit 600.000 D-Mark aus seinem Etat. Und so „wäre möglicherweise das Berliner Kernkraftwerk am Ende doch gebaut worden“, schreibt der Historiker Joachim Radkau in seinem Standardwerk „Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft“. Doch wir befinden uns im Jahr 1961 in Berlin, in der Zeit von Mauerbau und Berlin-Krise. Einen weiteren atomaren Krisenherd – nicht durch Raketen, sondern durch ein Kraftwerk verursacht – wollten sich die USA nicht leisten.

Wie bei der Aufnahme der Planungen war es am Ende auch der amerikanische Einfluss, der das Projekt zu Fall brachte. Der stellvertretende Leiter der Wirtschaftsabteilung der US-Mission erschien in der Senatskanzlei und brachte die Erwägungen des State Department vor. Neben allgemeinen Sicherheitsbedenken ging es den Amerikanern vor allem um die politische Situation: „Man wolle auch nicht in ein sicher notwendig werdendes Gespräch mit den Zonenbehörden kommen“, fasste ein an den Regierenden Bürgermeister Brandt gerichtetes Memorandum das Gespräch zusammen.

Denn der Viermächtestatus gab der Sowjetunion ein Mitspracherecht bei allen Vorhaben, die Gesamtberlin betrafen. Das hätte auch für das geplante Atomkraftwerk gegolten, von dem Bewohner Ostberlins und der DDR stark betroffen gewesen wären. Solche Verhandlungen waren in diesen Jahren, als die Beziehungen zwischen Ost und West auf Eis lagen und es praktisch keine Gespräche gab, nicht vorstellbar.

„Wirtschaftlichkeit nicht bewiesen“

An die Öffentlichkeit gelangte die ganze Geschichte mit ihren Verwicklungen damals nicht. Erst im September 1962 informierte Bewag-Direktor Rudolf Wissell die Presse, dass die Bewag die Pläne für ein Kernkraftwerk aufgegeben habe. Als Gründe nannte er aber nur wirtschaftliche Überlegungen: „Die Wirtschaftlichkeit von Atomkraftwerken ist bisher nicht bewiesen worden.“ Man habe inzwischen „im Ausland und in Westdeutschland Kalkulationen aufgestellt, nach denen der Strom aus Atomenergie erheblich teurer als der bisher mit Kohle und Öl erzeugte werden würde“.

Heute wäre das Ausmaß an Nicht-Öffentlichkeit, mit dem Bewag, Senat und Bundesatomministerium das Projekt Atomkraftwerk in Westberlin planten und diskutierten, schlicht nicht vorstellbar. Ganz allgemein war die Presse anfangs über den Beginn der Planungen informiert worden. Offenbar interessierten sich die Medien anschließend kaum für das Thema – das Vorhaben wurde unter Ausschluss der Öffentlichkeit vorangetrieben und nur unter den engeren Beteiligten diskutiert.

Der Westberliner Senat aber griff die Pläne für ein innerstädtisches Atomkraftwerk zehn Jahre später wieder auf. Diesmal sollte der Reaktor sogar noch näher an Wohngebieten stehen. An der Spree in Spandau wurde geplant, einen 600-Megawatt-Reaktor zu errichten, der sowohl Strom als auch Dampf für Fernheizungen liefern könnte. Das Projekt wurde 1976 offiziell aufgegeben – auch aus Angst vor Bürgerprotesten. In Wyhl in Südbaden und in Brokdorf an der Elbe wehrten sich zu dieser Zeit bereits Zehntausende gegen Atomkraft. Heute steht anstelle des Berliner Atomkraftwerks dort das Kohlekraftwerk Reuter-West.

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