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Atmendes Leder - röchelnde Menschen

■ In Mainz steht die Führungsriege eines Lederspray–Herstellers vor Gericht / Ihr Spray soll Atemnot, Schüttelfrost und Blutspucken verursacht haben

Von Sabine Giehle

Mainz (taz) - Hoch oben an der Wand schweben die drei Schicksalsgöttinnen, umgeben von den zwölf Sternzeichen: Klotho spinnt den Faden, Lachesis dreht ihn und Atropos schneidet ihn ab. Über ihnen hängt, etwas aus dem Gleichgewicht geraten, die Waage der Justitia. Zu ihren Füßen geht es weniger symbolisch, um nicht zu sagen nüchtern, zu. Im Raum 201 des Mainzer Landgerichts tagt seit Anfang Dezember die 5. Große Strafkammer. Angeklagt sind sieben Mitglieder der ehemaligen und jetzigen Führungsriege der Mainzer Unternehmensgruppe Werner & Mertz. Deren Geschäftsführer und die Manager der Tochtergesellschaften Erdal–Rex und Solitär werden der fahrlässigen beziehungsweise vorsätzlichen gefährlichen Körperverletzung angeklagt. Zwischen November 1980 und Juni 1984 sind der Staatsanwaltschaft 55 Fälle bekannt geworden, bei denen nach Verwendung der von Werner & Mertz produzierten und von den Tochtergesellschaften vertriebenen Ledersprayprodukten „teilweise erhebliche gesundheitliche Beeinträchtigungen“ auftraten. „Schwere Vergiftungen, begleitet von massiver Atemnot, hohem Fieber, Schüttelfrost und Erbrechen“ seien auch bei den Verbrauchern aufgetreten, die die Sprays sachgerecht und bei geöffneten Fenstern und Türen angewandt haben. Blutspucken, Erbrechen, Bewegungsunfähigkeit, Luftnot und Übelkeit hätten zwölf Personen in zum Teil „lebensbedrohlichem Zustand“ auf die Intensivstationen gebracht. Für weitere 13 Verbraucher seien eine stationäre, für zahlreiche andere eine ambulante Behandlung notwendig geworden. Obwohl das Unternehmen spätestens seit November 1980 durch Zuschriften über diese Vorgänge informiert war, unterließen es die Verantwortlichen, die Produkte aus dem Handel zu nehmen oder die Öffentlichkeit vor möglichen Gesundheitsschäden zu warnen, begründet die Staatsanwaltschaft ihre Anklageerhebung. Erstmals im Oktober 1983 enthielten die neuproduzierten Spraydosen einen aufgedruckten Hinweis auf mögliche gesundheitsschädigende Konsequenzen. Bei den betreffenden Spraydosen handelt es sich unter anderem um die Produkte „Solitär–3–fach–Vollimprägnierspray“, „Solitär–Wildlederspray“ „Erdal–Wildlederfarbspray“ und „Erdal–Nässeschutz“. Der Anklageschrift ist zu entnehmen, daß es sich bei den Lederspraymitteln um teilweise chemisch identische Zusammensetzungen handelt, die unter verschiedenen Markenbezeichnungen verkauft wurden. Wie von der Zeitschrift Öko– Test (5/87) veröffentlicht, warnte das Bundesgesundheitsamt schon im Mai 1983 vor der Anwendung von Ledersprays: „Das Einatmen der beim Sprühen freigesetzten Stoffe kann beim Menschen andauernde Atemnot, Hustenreiz und andere Krankheitssymptome hervorrufen.“ Das gesundheitliche Risiko sei deshalb „unvertretbar“. Untersuchungen bestätigten die Gefährlichkeit von Ledersprays. Zunächst wurde vermutet, daß die Ursache für die toxische Wirkung das in verschiedenen Imprägniermitteln enthaltene „Silikon“ sei. Einige Hersteller zogen ihre Produkte zurück; das Silikon wurde aus den Sprays herausgelassen. Doch auch nach der Anwendung von Ledersprays ohne Silikon traten Vergiftungserscheinungen bei den Verbrauchern auf. Dennoch wurden Produkte mit dem Hinweis auf mögliche Gesundheitsschäden weitervertrieben. So traten und treten auch nach 1983 Vergiftungen durch Ledersprays auf; allerdings mit Vorwarnung. Die Verantwortlichen von Werner & Mertz stehen nicht vor Gericht, weil ihre Produkte möglicherweise gefährlich sind, sondern weil sie es trotz Kenntnis von deren Gefährlichkeit unterlassen hätten, die Öffentlichkeit zu informieren. Am 7. Dezember, dem ersten Verhandlungstag im Erdal– Prozeß, verweigerten sechs der sieben Angeklagten jegliche Aussage zur Sache. Sie wollten zunächst die Zeugenvernehmung abwarten, bis geklärt sei, ob die Gesundheitsschäden überhaupt auf die Produkte ihrer Firma zu rückzuführen seien, und ob die Firma von diesen Fällen erfahren hätte. Einzig der 1982 entlassene Geschäftsführer der Werner & Mertz GmbH, der auch gleichzeitig der Solitär GmbH und Erdal Rex GmbH vorstand, beantwortete die Fragen des Gerichts. Ihm seien lediglich Fälle bekannt geworden, die die von Erdal ausgelieferten Produkte betrafen. Sofort nach dem Bekanntwerden der Vergiftungserscheinungen habe er die Auslieferung stoppen lassen. Eine Überprüfung der Produkte habe allerdings keine Hinweise auf gesundheitsschädliche Wirkungen ergeben. Schon am zweiten Verhandlungstag schien der Prozeß gefährdet. Der 53jährige ehemalige Geschäftsführer, der als einziger Aussagen zur Sache machte, lag auf der Intensivstation eines Krankenhauses in Norddeutschland. Eine Abtrennung des Verfahrens hätte bedeutet, daß in dem laufenden Verfahren eventuell kein Bezug mehr auf seine Aussagen genommen werden könne und daß zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal für ihn ein Prozeß durchgeführt werden müßte. Nach mehreren Unterbrechungen und Telefonaten entschied das Gericht, das Verfahren gegen den ehemaligen Geschäftsführer der Unternehmensgruppe „vorläufig“ abzutrennen. Die geplante Zeugenvernehmung wurde auf den nächsten Termin verschoben. Bis Ende Februar sollten an wöchentlich zwei Verhandlungstagen etwa 60 Zeugen vernommen werden. Etwa ein Dutzend sachverständiger Zeugen, darunter die Ärzte der Geschädigten, sind geladen. Als unabhängiger Sachverständiger wird auch Professor Grunoh vom Berliner Bundesgesundheitsamt angehört werden. Vom Ausgang dieses Verfahrens wird es wohl abhängen, ob sich Schadensersatzprozesse der betroffenenen Verbraucher gegen die Unternehmensgruppe Werner & Mertz anschließen werden. Zwei Anwälte vertreten die Geschädigten als Nebenkläger vor Gericht. Bisher ist es noch zu keinen Schmerzensgeldzahlungen an die Erkrankten gekommen. Lediglich im Falle eines qualvoll verendeten Papageis zahlte die Firma dem Besitzer Schadensersatz.

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