Astrid Lindgrens Tochter über ihre Mutter: „Sie war nicht nur Pazifistin“
Karin Nyman ist froh, dass Astrid Lindgren den Rechtsruck in Europa nicht mehr mitbekam. Ein Gespräch über Politik, Pazifismus und Pippi in China.
Ein kubistisches weißes Haus auf der Stockholmer Insel Lidingö. Lichtdurchflutet, hell, schnörkellos. Hier wohnt Karin Nyman, Astrid Lindgrens mittlerweile 81-jährige Tochter, die ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten ist. „Die Ähnlichkeit kam erst im Alter“, Nyman lächelt verlegen, als sie am großen Bücherregal vorbeigeht. Hinter ihr geht ihr Mann, Carl Olof Nyman, langsam die Treppen hinauf. Die freundliche alte Lady setzt sich auf ihr beiges Sofa und serviert Tee, an diesem kalten, aber sonnigen Tag.
taz.am wochenende: Frau Nyman, erst am Wochenende waren Sie wieder in der Stockholmer Wohnung, in der Ihre Mutter 60 Jahre gelebt hat. Sie ist nun ein Museum?
Karin Nyman: Ja. Bisher hatten wir dort zwar bereits kleine Gruppenbesichtigungen, aber die Besucher mussten Mitglieder der Astrid-Lindgren-Gesellschaft sein. Oder Verwandte, Freunde. Seit November ist es für jeden, der an Astrid Lindgrens Leben interessiert ist, möglich, einen Besuch zu buchen.
Zeitgleich haben Sie sich dazu entschlossen, Astrid Lindgrens Tagebücher aus den Jahren 1939 bis 1945 zu publizieren.
Wir wussten immer, dass das mehr Leute als nur die Familie ansprechen würde. Nur war die Menge kaum zu bewältigen. Über 18 Bücher voll mit ausgeschnittenen Zeitungsartikeln über den Krieg! Also dachten wir, dass es keine Möglichkeit gibt, den Stoff zu publizieren.
Was hat Sie zum Umdenken bewogen?
Leben: Geboren am 21. Mai 1934 in Stockholm als Tochter von Astrid Lindgren und dem Regisseur Sture Lindgren.
Wirken: Sie arbeitete vor allem als Übersetzerin – und verwaltet die Rechte von Astrid Lindgren.
Das Buch: Astrid Lindgren. „Die Menschheit hat den Verstand verloren. Tagebücher 1939–1945“ Ullstein, Berlin 2015. 576 Seiten
Meine Nichte kam auf die Idee, dass wir die Texte so herausbringen können, wie sie sind, nur eben ohne die ganzen Zeitungsartikel. Wir haben die Auswahl auf die Zeitungsausschnitte beschränkt, die sie damals selbst kommentierte. Die schienen ihr wichtig zu sein …
… neben einigen Fotos und vor allem Briefen aus der schwedischen Postzensur, wo Astrid Lindgren als Sekretärin arbeitete. Die Briefe hat sie heimlich entwendet – ein bisschen „pippilangstrumpfhaft“.
Es war natürlich geheim. Meine Mutter ergänzte dazu ihre eigenen Notizen. Die waren so geschrieben, dass wir nachträglich nichts mehr verändern mussten. Es würde eine gute Geschichte ergeben, auch ohne all die Artikel, und das haben wir jetzt daraus gemacht: eine gute Geschichte.
Was ist die Erzählung?
Sie gibt einen profunden Eindruck, wie Astrid Lindgren zu der Zeit lebte. Manchmal hat man das Gefühl, dass sie selbst als Augenzeugin dabei war – aber natürlich ist das alles nur aus zweiter Hand – und zur gleichen Zeit sehr lebendig. Ich habe die Tagebücher mein ganzes Leben über gelesen, also waren sie für mich nicht unbedingt neu.
Was hat Ihnen an den Tagebüchern am meisten gefallen?
Die Qualität der Unterhaltung. Das war, glaube ich, sehr wichtig, diese Art „Comic Relief“ – eine Befreiung vom Grauen durch den Humor.
Astrid Lindgren schreibt gegen Ende der Tagebücher, dass sie „am glücklichsten ist, wenn sie schreibt“. Wollte sie diese Bücher veröffentlichen?
Nein, ich glaube nicht. Aber man kann in den Tagebüchern gut Astrid Lindgrens Weg zur Schriftstellerin nachvollziehen.
Inwiefern?
Wenn sie von vornherein daran gedacht hätte, diese Bücher einer Öffentlichkeit zugänglich zu machen, hätte sie sich vermutlich selbst zensiert, dann enthielten sie nicht so viele Passagen, in denen sie so frei und humorvoll schreibt.
An einer Stelle schreibt sie sarkastisch: „Schade, dass niemand Hitler erschießt.“
Ja, sie bedauerte die vielen vereitelten Anschläge auf ihn. Meine Mutter wollte die Tagebücher als Zeitdokument aufbewahren, während der Krieg weiter tobte. Zu der Zeit konnte man nichts im Internet suchen.
Ausgeschnittene Artikel – nach der Schule dann volontierte Astrid Lindgren bei einer schwedischen Tageszeitung.
Der journalistische Hintergrund spielte sicher eine Rolle. Auch später, nach dem Krieg, führte sie noch Tagebuch und schrieb eine Weile über die Kriegsgefangenen in den besetzten Ländern.
Werden die Tagebücher den Blick auf Astrid Lindgren verändern?
Oh, ich denke schon, vor allem in Deutschland. Astrid Lindgren lehnte das Nazi-Regime vehement ab, aber sie empfand oft Sympathie für die Deutschen, vor allem für die Kinder, das wird im Buch mehrfach deutlich. Von deutschen Schriftstellern, Musikern, Komponisten war sie positiv beeinflusst. Ich denke, die Tagebücher werden vielen Lesern die Augen öffnen. Vielleicht werden sie ein wenig überrascht sein.
Wieso überrascht?
Ich glaube, in Deutschland war sie nichts anderes als diese Märchentante, die Kinderbücher aus Sehnsuchtsorten schreibt, die vom Krieg sehr weit entfernt sind.
Was hielten Sie von Deutschland?
Während des Kriegs hat Hitler die deutsche Sprache und Kultur für Ausländer gewissermaßen zerstört. Wir haben die Sprache unwillkürlich mit seinen Reden assoziiert, die wir immer und immer wieder im Radio hörten. Es hat uns eine Zeit gekostet, diese Sprache wieder als normale Sprache anzusehen.
Inzwischen sprechen Sie gut Deutsch, wo haben Sie das gelernt?
In der Schule, aber als wir weitere Fremdsprachen lernten, haben wir nur noch wenig Deutsch miteinander gesprochen, wir waren wirklich schlecht darin.
Ihre Mutter konnte auch gut Deutsch sprechen.
Ja, Sie hatten einen guten Lehrer. Sie haben deutsche Literatur gelesen und sich im Unterricht unterhalten. Damals war diese Lehrmethode noch sehr neuartig. Das ist heute etwas verloren gegangen.
In den Tagebüchern notiert Astrid Lindgren einmal, dass Sie, Frau Nyman, als Kind oft krank waren und sich vorgestellt hatten, dass es im Krieg nur Marmelade und Wasser gebe. War das so? Wie haben Sie den Krieg in Erinnerung?
Als der Krieg begann, war ich fünf Jahre alt, und als er endete, zehn. Leider habe ich an diese Zeit kaum eine Erinnerung. Was ich selbst bewusst erinnere, ist diese unheimlich graue, schwere Atmosphäre, doch keine richtigen Details.
Sie sind damals einige Male umgezogen, können Sie sich noch daran erinnern, wie eines Ihrer Zimmer aussah?
Mein Zimmer als Kind? Ein simples Kinderzimmer mit einem Bett, einem Tisch und Bücherregalen. Damals gab es noch keinen Fernseher oder Musik-Anlagen.
Wie hat Astrid Lindgren den Krieg aus der Stockholmer Perspektive erlebt?
Sie hat es nicht gezeigt, aber sie war sehr besorgt, was auf der Welt, aber auch bei uns in Schweden passierte, obwohl wir sehr privilegiert waren. Sie empfand es wohl als ähnlich bedrückend.
Zunächst hatte Astrid Lindgren mehr Angst vor den Russen als vor Hitler. Ich zitiere: „Und dann, glaube ich, sage ich lieber den Rest meines Lebens ‚Heil Hitler‘, als den Rest meines Lebens die Russen bei uns zu haben.“
Also zum einen ist es traditionell schwedisch, die Russen zu fürchten, weil sie seit Jahrhunderten eine Bedrohung darstellen. Die Schweden waren sich sehr sicher, dass eine Invasion der Russen sehr viel schlimmer sein würde als ein Angriff von Hitler. Meine Mutter hatte die Gefahr, die von den Deutschen ausging, noch nicht so bewusst wahrgenommen.
Dann aber erkennt sie, dass „mit einem Volk, das im Abstand von etwa 20 Jahren so gut wie die ganze übrige Menschheit gegen sich aufbringt, etwas nicht stimmen kann“ – wie es in ihren Aufzeichnungen heißt.
Ja, sie wusste, dass etwas passierte, etwas schrecklich Unausweichliches mit diesem Hitler.
Hitler hatte viele Sympathisanten und Nachahmer, auch in Skandinavien. Einer war der norwegische Nazi Vidkun Quisling. Ihre Mutter macht sich im Buch über ihn lustig.
Sie bezieht sich auf einen Witz, der über ihn gemacht wurde. Weil Quisling als „Führer“ seine Partei nach Hitlers Führerprinzip aufbaute, wurde gewitzelt, Quisling habe Hitler gefragt, ob er „Mein Kämpflein“ über sich selbst herausbringen darf. Mit der Zeit wird sie immer sarkastischer. Aber sie schreibt auch über die Judendeportationen, die vielen unschuldigen Menschen, die durch den Krieg verwaisten Kinder, für die sie sich eine friedliche Zukunft wünschte.
Als der Krieg anfing, war Astrid Lindgren aber noch nicht so pazifistisch, oder?
Ich denke, sie war nicht nur Pazifistin. Sie wollte wirklich, dass sich mehr schwedische Freiwillige melden, die für Finnland gegen die Russen kämpften, aber schlussendlich wurde sie zu einer Pazifistin, die erkannt hat, wie schrecklich der Krieg ist.
Dann kam „Pippi Langstrumpf“, zu deren Namen Sie Ihre Mutter inspirierten.
Ja, sie hat mir jede Nacht Geschichten erzählt, wenn ich zu Bett ging. Nach etwa drei, vier Jahren verstauchte sie sich den Knöchel und begann, Pippi Langstrumpf herunterzuschreiben und ein Buch daraus zu machen.
Die starke Punker-Heldin als Antwort auf den Krieg?
Ich nehme an, dass Pippi eine Möglichkeit war, von den Bedrohungen, den Katastrophen, der Repression wegzukommen. Einfach, indem sie sich jemanden vorstellte, der so unabhängig war wie Pippi.
Ist das der Grund, weshalb die mittlerweile über 70 Jahre alte Pippi immer noch von jedem Kind gekannt und geliebt wird?
Zurzeit ist sie zum Beispiel sehr populär in China. Ich habe eine Verlegerin getroffen, die erzählte, dass Kinder und Jugendliche dort kaum Freizeit hätten und ständig lernen müssten. Zudem gibt es viele Einzelkinder. Die brauchen eine Figur wie Pippi Langstrumpf, mit der sie gemeinsam Abenteuer erleben können.
Astrid Lindgren hat auch sehr traurige Figuren erschaffen. In „Mio, mein Mio“ zum Beispiel geht es um einen verwaisten Jungen. Geht diese Geschichte auf die Kriegswaisen zurück?
Das ist sehr gut möglich. Meine Mutter wusste von all den Kindern in Europa, die ihre Eltern verloren hatten, auf der Straße lebten und auf die schlimmste Art zu Waisen wurden. Aber sie hatte ja auch selbst diese spezielle Lebensgeschichte. Damals musste sie ihren Sohn zuerst zu Pflegeeltern geben.
Ihren Halbbruder Lars.
Für sie war die Geschichte „Mio, mein Mio“ vielleicht auch eine Art Aufarbeitung. Es wurde leichter, sich anhand einer Figur vorzustellen, wie es sich anfühlt, verlassen zu werden.
Gab es etwas aus Ihrer Kindheit, das Ihre Mutter in den Kinderbüchern erwähnt?
Meine Mutter schrieb die meisten Geschichten basierend auf ihren eigenen Erfahrungen als Kind, sie hat sich diesbezüglich weniger von ihren eigenen oder anderen Kindern inspirieren lassen. Aber Kinder waren ihre wichtigsten Leser.
Wenn sie nicht gerade ihre eigenen Geschichten erzählte – welche Kinderbücher hat Astrid Lindgren Ihnen vorgelesen?
Ich erinnere mich an „Alice im Wunderland“ und „Winnie-the-Pooh“. Es gab so viele Bücher in meiner Kindheit. Auch in dieser Hinsicht waren wir sehr privilegiert. Ich denke, in Deutschland waren nur Nazi-Bücher erlaubt und als der Krieg anfing, sind keine anderen Kinderbücher entstanden, die diese in den Schatten stellen konnten. Dann kam Pippi und füllte diese Lücke vielleicht ein bisschen.
Haben Sie noch Andenken von Ihrer Mutter im Haus?
Ich habe ein großes Foto meiner Mutter an der Wand hängen und natürlich habe ich die Bücher aufgehoben, die sie geschrieben hat.
Wie war die Beziehung zu Ihrer Mutter?
Sie war sehr farbenfroh. Es war immer schön, mit ihr zusammen zu sein. Aber nicht unbedingt, weil meine Mutter uns Geschichten erzählte, Ausflüge unternahm oder mit uns spielte, sondern weil sie so voller Leben war, dass es sich bedeutungsvoll anfühlte, mit ihr zusammen zu sein.
Wie erinnern sich Ihre eigenen Kinder an ihre Großmutter?
Meine Kinder hatten eine sehr fürsorgliche Großmutter, die mit ihnen gespielt hat, als sie klein waren, und ihnen geholfen hat, wenn sie sie brauchten, als sie älter wurden. So erinnern sie sich an sie.
Sie haben oft Radtouren nach Småland unternommen. Besuchen Sie den Ort immer noch?
Ja, aber heute fahre ich mit dem Zug nach Småland oder mit dem Auto, um meine Cousins zu besuchen. Wir sind nun aber alle alt, zwischen 75 und 80. Mit dem Fahrrad fahren wir heute also nicht mehr.
In einer Astrid-Lindgren-Biografie heißt es, Astrid Lindgren sei nicht nur die lustige „Tante von Bullerbü“, sie sei auch der „Dostojewski“ von Bullerbü. Was, denken Sie, war das Geheimnis ihres Erfolgs?
Das Geheimnis ihres Erfolgs ist wahrscheinlich das: Sie erinnerte sich, wie es ist, ein Kind zu sein.
Haben Sie das Schreiben je für sich selbst entdeckt?
Ich habe nie Bücher geschrieben, nur einmal – es ist lange her – als ich gefragt wurde, ob ich für ein Kinderbilderbuch kleine Texte beisteuern könne. Es ging um Autos. Danach habe ich nie etwas anderes gemacht, als Bücher zu übersetzen.
Gibt es jemanden in der Familie, der schreibt?
Die Geschwister meiner Mutter waren alle sehr schreibbegabt. Ihr Bruder publizierte eine Reihe von Büchern. Eine Schwester war Literatur-Übersetzerin, eine andere Journalistin.
Sie waren maßgeblich an der Herausgabe von Astrid Lindgrens Büchern beteiligt. Wieso haben Sie sich damals entschieden, das Wort „Neger“ aus Pippi Langstrumpf zu streichen?
Wir mussten es leider ersetzen, auch wenn es ein historisches Wort ist. Ich habe mitbekommen, dass das Wort von Kindern in Schweden dazu genutzt wird, um andere zu beleidigen und bewusst zu verletzen.
Der Rechtsruck in der EU, brennende Flüchtlingsheime, tätliche Angriffe. Siebzig Jahre nach Kriegsende, stellt sich Astrid Lindgrens Frage, weshalb die Menschheit so wenig aus der Geschichte lernt, erneut.
Bei uns gibt es die Schwedendemokraten, eine rechte Partei, die für einen Aufnahmestopp von Flüchtlingen ist. Sie wird immer größer und fischt viele Stimmen aus allen Bevölkerungsschichten. Das ist sehr beunruhigend.
Was hätte sie dazu gesagt?
Nach 1945 haben die Menschen das Kriegsende enthusiastisch gefeiert. Von jetzt an wird die Welt endlich besser, so dachte man. Ich bin mir sehr sicher, dass wir als Kinder auch so dachten: Der Krieg war eine böse Zeit, die ist nun vorbei ist. Aber mit dem Bosnienkrieg verlor meine Mutter die Hoffnung, dass die Menschheit aus dem Krieg gelernt hätte und weiser geworden wäre. Das, was heute passiert, würde sie vermutlich zerstören, also bin ich froh, dass sie das nicht miterleben muss.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“