Assayas' Film über Carlos: Besoffen von sich selbst
In seinem furiosen Film inszentiert Olivier Assayas Carlos' Leben als Augenblicke mit potenziell offenem Ausgang. Der antikapitalistische Terrorist schillert dabei als flexibler Unternehmer.
Die Geschichte ist ein Haufen, sagt der Berliner Dokumentarist Thomas Heise. Eine Ansammlung von Ereignissen, die sich überlagern und vermengen, ohne dass sie im Augenblick ihres Geschehens einen Sinn ergäben. Erst in der Rückschau lässt sich dieser Sinn ermitteln, doch das heißt auch, dass man den Ereignishaufen nachträglich ordnet, eine Konstruktionsanstrengung unternimmt, die der Augenblick selbst nicht hergibt und von der diejenigen, die im jeweiligen Augenblick agieren, keine Kenntnis haben.
Was haben Thomas Heises Gedanken zur Geschichte mit dem neuen Film von Olivier Assayas zu tun, dem fünfeinhalbstündigen, vom französischen TV-Sender Canal + produzierten "Carlos - Der Schakal"? Das Bindeglied liegt im Bemühen, die zeitgeschichtlichen Begebenheiten als offen und nicht von ihren Ergebnissen her bestimmt zu begreifen. Assayas erzählt einen wesentlichen Ausschnitt aus der Vita des venezolanischen Terroristen. In den 70er Jahren agiert er für die Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP), später als Terror-Freelancer für Syrien, Irak und Libyen. Mit dem Ende des Kalten Krieges verliert er seinen Aktionsraum und wird schließlich 1994 im Sudan verhaftet. Assayas inszeniert so, dass alles, was geschieht, sich im Augenblick des Geschehens in tausend Richtungen entwickeln kann. Er gibt den Ereignissen ihren potenziell unbestimmten Ausgang zurück, schichtet sie gewissermaßen noch einmal zu dem Haufen auf, den sie bilden, bevor die nachträgliche Sinnkonstruktion einsetzt.
Wie das konkret aussieht? In etwa so: Das Publikum mag wissen, dass Carlos im Sommer 1975 in einer Wohnung in der Pariser Rue Toullier drei Männer erschoss und einen weiteren schwer verletzte; Carlos selbst weiß das nicht, bevor es geschieht, genauso wenig wissen es die Polizisten und die Studenten aus Lateinamerika, die sich zufällig in der Wohnung befinden. Assayas inszeniert die Schießerei und das, was ihr vorausgeht, im Bewusstsein dieses Nichtwissens. Keiner der Akteure hat eine Vorstellung davon, was auf ihn zukommt. Die Studenten spielen Gitarre, singen lateinamerikanische Protestlieder, trinken, die Polizisten klingeln an der Tür, werden eingelassen, unterhalten sich mit den jungen Leuten, die Kamera schaut sich aus relativer Nähe die Oberkörper der Figuren an, nicht ihre Köpfe, sie verwehrt die Orientierung im Raum, der Überblick geht zwischenzeitlich verloren. Einer der Polizisten lässt sich zu einem Whisky überreden und kommentiert die linksradikalen Plakate an den Wänden des Zimmers: "Sie machen ja keinen Hehl aus Ihren politischen Überzeugungen."
Im zweiten großen Block von "Carlos - Der Schakal" geht es um die Geiselnahme im Wiener Opec-Hauptquartier im Dezember 1975 und um die anschließende Flugzeugentführung, eine Aktion, die zum Ziel hatte, den saudischen Ölminister Ahmed Saki al-Jamani zu töten. Assayas verfährt hier ähnlich; auf Augenblicke eruptiver Action lässt er Stillstand folgen; der Unsicherheit aller Beteiligten über den Fortgang der Geschehnisse gibt er viel Raum, etwa in einem langen Gespräch, das Carlos mit Jamani führt. Er geht also ganz anders vor als Uli Edel in "Der Baader Meinhof Komplex". Der deutsche Regisseur begnügt sich damit nachzuinszenieren, was ohnehin im kollektiven Bildgedächtnis fixiert ist, dabei entsteht eine Art "Best-of-RAF"-Medley.
Die große Qualität von "Carlos - Der Schakal" liegt dagegen darin, dass sich Assayas die nötige Zeit nimmt und dabei eine beeindruckende Sensibilität für Details und Nebensächlichkeiten an den Tag legt. Zugleich inszeniert er treibend genug, damit man sich in den fünfeinhalb Stunden nicht langweilt; der Soundtrack trägt einen guten Teil dazu bei. Ob diese Qualitäten auch in der kürzeren, gut dreistündigen Fassung des Films zur Geltung kommen, ist fraglich - es zu beurteilen steht mir nicht zu, da ich die kurze Fassung nicht sehen konnte.
Einige Sinnstiftungen zeichnen sich in Assayas offener Inszenierung dann doch ab: zum Beispiel Carlos Egomanie, sein Machismo, sein Narzissmus, die Verlogenheit seines Antiimperialismus. Das Selbstbestimmungsrecht der Kurden geht ihm am Arsch vorbei, während ihm das der Palästinenser heilig ist. Édgar Ramírez, der Hauptdarsteller, trägt eine beeindruckende Körperlichkeit in den Film hinein; die Furcht, sich zu exponieren, ist ihm fremd. Einmal, zu Beginn, verübt Carlos ein Attentat auf einen Londoner Unternehmer, der Vizepräsident der British Zionist Federation ist. Nach dem Mordanschlag kehrt Carlos in seine Wohnung zurück, stellt sich nackt vor den Spiegel, fasst sich an den Schwanz, besoffen von sich und seiner Potenz. Eine gute Filmstunde später erwacht Carlos unter einem Moskitonetz, schiebt sich mühsam aus dem Bett und stellt dabei einen fetten Bauch zur Schau. Am Ende des Films hat er Hodenkrebs, sein Niedergang als Terrorist fällt mit dem Niedergang seiner Virilität zusammen.
Und da ist noch etwas anderes: Carlos, dieser glühende Feind des Kapitalismus, agiert in Assayas Film als Freelancer, mehrsprachig, gewandt, global bestens vernetzt. Dieser antikapitalistische Terrorist birgt in sich das, wovon der globalisierte Kapitalismus träumt: den Typus des flexiblen Unternehmers. Was für eine böse Ironie!
Anlässlich des Filmstarts von "Carlos - der Schakal" sind in der taz auch ein Interview mit Regisseur Olivier Assayas http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=ku&dig=2010/10/30/a0035&cHash=f529f5192cund eines mit dem ehemaligen RZ-Mitglied Thomas Kram erschienen.
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