Arte-Themenabend Aids: Strich und Spritze
Die Ukraine kämpft mit der höchsten HIV-Infektionsrate in Europa - es ist eine Katastrophe mit vielen Ursachen.
Die Zahlen schockieren: 122.000 Ukrainer sind als HIV-positiv registriert. Doch das sind nur die offiziellen Angaben. Schätzungen des Aidsbekämpfungsprogramms der UNO, Unaids, nach liegt die Zahl der Betroffenen bei 440.000. In den ersten zehn Monaten dieses Jahres haben sich bereits knapp 16.000 weitere Personen mit HIV infiziert. Damit weist die Ukraine, ein Land mit 46 Millionen Einwohnern, europaweit die höchste HIV-Infektionsrate auf.
Wie es zu dieser Katastrophe kommen konnte, erzählt der Dokumentarfilm "Am Rande - sechs Kapitel über Aids in der Ukraine" des Berliner Filmemachers Karsten Hein, den Arte am Montag anlässlich des Welt-Aidstages ausstrahlt. Ort der traurigen Bestandsaufnahme ist der russischsprachige Osten: Orte wie Donetsk, Poltawa oder Torez, wo viele Menschen angesichts des wirtschaftlichen Niedergangs den Glauben an ein besseres Leben verloren haben.
Aids in der Ukraine - das arbeitet der Film sehr präzise heraus - hat viele Ursachen: Das Virus lauert in der Spritze mit dem selbst gekochten Opiat "Schirka", die in der Regel mehrere Abhängige benutzen. Auf dem Straßenstrich von Poltawa, wo die drogensüchtigen Prostituierten Klienten gegen einen Aufpreis auch ohne Kondome zu Diensten sind. Ein geradezu idealer Nährboden für das Virus, aber auch für Infektionen mit Tuberkulose, sind überbelegte Strafkolonien, in denen menschenunwürdige Bedingungen herrschen. Hier ist die Drogenabhängigkeit zehnmal höher als draußen. Wer lebend aus "der Zone" wieder herauskommt, ist ob jahrelanger Demütigungen innerlich tot. Besonders hart trifft Aids auch die Kinder. Immer mehr von ihnen werden durch die Krankheit zu Waisen oder sind bereits bei ihrer Geburt infiziert. Hinzu kommt, dass weite Teile der Gesellschaft, sei es aus Unkenntnis oder Ignoranz, diese Kinder stigmatisiert und so einem ungewissen Schicksal überantwortet.
Angesichts dieses Dramas spielt der ukrainische Staat in doppelter Hinsicht eine fatale Rolle. So ist es ein offenes Geheimnis, dass korrupte Vertreter der Miliz kräftig am Drogenhandel mit verdienen und sich auch an den Abhängigen schadlos halten. Zudem ist das staatliche Gesundheitssystem chronisch unterfinanziert und nicht in der Lage, die Kranken mit einer antiretroviralen Therapie adäquat zu versorgen. Der Global Fund hat 92 Millionen US-Dollar für die Aidsbekämpfung in der Ukraine zur Verfügung gestellt. Damit können 6.000 Patienten behandelt werden. Und dann? Der Film endet mit der Frage: Was tut der Staat? Zeit, lange über eine Antwort nachzudenken, hat Kiew nicht. BARBARA OERTEL
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen