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Armutszeugnis für den Senat

Der erste Kinder- und Jugendbericht offenbart: Armut und Arbeitslosigkeit sind die Hauptprobleme junger Leute. Für diese dramatische, aber wenig neue Erkenntnis brauchte der Senat drei Jahre

von PLUTONIA PLARRE

„Die Kinderarmut gefährdet die Stadt.“ Zu dieser dramatischen Einschätzung kommt der erste Berliner Kinder- und Jugendbericht, den eine Sachverständigenkommission im Autrag des Senats erstellt hat. Ohne zusätzliche finanzielle Ressourcen sei der Prozess der Verarmung ganzer Stadteile nicht aufzuhalten, heißt es in der Zusammenfassung des Berichts, die der taz vorliegt. Die Kommission fordert deshalb „dringend“ zusätzliche Strategien und Maßnahmen gegen Armut und soziale Ausgrenzung als Bestandteil sozialer Stadtentwicklung. „Die Armutsbekämpfung muss sich gezielt auf die Bereiche Arbeit und Wohnen konzentrieren, um eine nachhaltige Verbesserung der Lebensverhältnisse junger Menschen zu erreichen“.

Armut und Arbeitslosigkeit seien „die Hauptprobleme“ der hiesigen Kids. In der Zeit von 1990 bis 1997 habe sich die Zahl der SozialhilfeempfängerInnen unter 18 Jahren von 49.491 auf 90.859 beinahe verdoppelt. Überrepräsentiert seien dabei die unter 7-Jährigen, die 50 Prozent der Sozialhilfempfänger unter 18 Jahren ausmachten. Insgesamt seien etwa 45 Prozent der SozialhilfeempfängerInnen unter 25 Jahre alt.

Die soziale Isolierung der erwerbslosen Eltern treffe die Kinder „besonders hart“. Kinder arbeitsloser Eltern nähmen „immer weniger“ an Freizeitveranstaltungen und schulischen Programmen teil, wenn diese Geld kosteten. „In der Kleidung müssen sie stark zurückstecken und leiden unter dem Gespött der modeverwöhnten Mitschüler.“

Besonders stark belastet sind Alleinerziehende und kinderreiche Familien. Denn: Die kinderbezogenen Leistungen der Kindergeldkassen decken „schon längst nicht mehr“ den realen Bedarfszuwachs, weil die Leistungen nicht mit dem Preisanstieg Schritt halten. Sozialhilfebezug sei in der Regel begleitet von „infrastrukturell unterversorgten“ Wohnsituationen in Stadtbezirken, so dass auch die äußeren Lebensbedingungen der jungen Leute wenig anspruchsvoll seien.

Die Zahl der in Berlin arbeitslos gemeldeten Jugendlichen hat stark zugenommen – von 23.000 (1994) auf 30.000 (1997). Die tatsächliche Zahl aber sei zwei- bis dreimal so hoch. Von Arbeitslosigkeit betroffen seien vor allem Jugendliche ohne ausreichende Schul- und Berufsausbildung. „Junge Frauen und ausländische junge Menschen tragen insgesamt ein höheres Risiko, nach der Ausbildung arbeitslos zu werden.“

Auf die noch nicht veröffentlichte Studie haben Experten der Jugendarbeit seit Jahren gewartet. Doch die Hoffnung auf neuen Erkenntnisgewinn scheint das mehrere hundert Seiten umfassende Werk, das bislang nur in einer Zusammenfassung zu haben ist, nicht zu erfüllen. „Der Bericht bleibt leider sehr oberflächlich“, sagte gestern der Geschäftsführer des Landesjugendrings, Peter Bohl, auf Anfrage der taz. Die jugendpolitische Sprecherin der Grünen, Jeanette Martins, kommentierte die Zusammenfassung mit den Worten: „So platt wie wahr.“ Das meiste sei seit Jahren bekannt. „Innovative Ansätze sind nicht zu finden.“

Eigentlich ist der Senat gesetzlich dazu verpflichtet, in jeder Legislaturperiode einen Kinder- und Jugendbericht erstellen zu lassen. Das Papier soll Grundlage für weiteres Handeln sein. Demnach hätte die ehemalige Jugendsenatorin Ingrid Stahmer (SPD) den ersten Kinder- und Jugendbericht schon 1995 in Auftrag geben müssen. Sie tat es aber erst im Februar 1997. Die Kommission, der anfangs sieben und später sechs Sachverständige aus dem Jugendhilfebereich angehörten, hatte bis zur Fertigstellung drei Jahre Zeit.

Verantwortlich sei der Senat, kritisierte gestern Landesjugendring-Geschäftsführer Bohl. Schließlich hätten die Sachverständigen den Bericht in ihrer Freizeit unter miserablen Arbeitsbedingungen erstellen müssen. Viele Punkte hätten überhaupt nicht beleuchtet werden können, weil es in Berlin keine Datengrundlage für qualifizierte Jugendhilfeplanungen gebe.

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