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Armut-KommentarDie Ungerechtigkeitslücke

Ulrike Herrmann
Kommentar von Ulrike Herrmann

Die Mehrheit der Deutschen glaubt, dass es nicht gerecht zugeht im Staat. Warum sich dennoch keiner davon persönlich betroffen fühlt.

E in seltsamer Widerspruch: Fast das gesamte Volk glaubt, dass es nicht gerecht zugeht im Staat. Trotzdem aber haften die Deutschen am Status quo. Bloß keine Veränderungen! Diese kognitive Dissonanz ist gar nicht so irrational, wie sie aussieht. Denn es stimmt ja, wie alle internationalen Statistiken belegen, dass die Reformen der letzten Jahre vor allem Verlierer produziert haben. Nur wenige Spitzenverdiener konnten profitieren. Es ist nachvollziehbar, dass fast niemand diese Erfahrung wiederholen will.

Bild: taz

Ulrike Herrmann ist Autorin für Wirtschaftspolitik in der taz.

Die Stille im Land wird von den Politikern jedoch komplett missverstanden. So geben sich 60 Prozent aller Abgeordneten einer wohligen Selbsttäuschung hin: Sie glauben im Ernst, dass die deutsche Gesellschaft gerecht sei. Dieser Optimismus ist seltsam, aber nicht überraschend. Schließlich haben alle etablierten Parteien, ob im Bundestag oder im Bundesrat, an den Sozialreformen der letzten Jahre mitgewirkt. Da würde es nur stören, die Realität wahrzunehmen.

Die Abgeordneten müssen nicht befürchten, demnächst aus ihrer Selbstzufriedenheit gerissen zu werden. Denn fast niemand in Deutschland will sich beschweren, keiner möchte Opfer sein. Die allgemeine Klage über die Ungerechtigkeit bleibt abstrakt - nur die wenigsten fühlen sich persönlich betroffen. Selbst die Unterschicht findet es letztlich in Ordnung, dass sie so wenig verdient. Diese Bescheidenheit fühlt sich besser an, als die eigene Ohnmacht einzusehen. Deswegen ist auch von den Hauptschülern nicht zu erwarten, dass sie gegen die Hauptschule rebellieren, die ihnen alle Chancen nimmt.

Deutschland ist eine Klassengesellschaft, und das wird auch so empfunden. Aber für jeden Einzelnen gilt: Die Unterschicht ist immer dort, wo ich nicht bin. Klassenkampf fällt aus. Da fast niemand als Benachteiligter angesprochen werden will, ist das Wählerpotenzial für die Linken begrenzt. Insofern ist es nur konsequent, dass alle anderen Parteien so hartnäckig in die Mitte streben. Aber auch diese Mitte ist sozial sensibel. Das Loblied der "Eigenverantwortung" - von CDU bis Grün gern vorgetragen - verfehlt ein Volk, das so vehement die Ungerechtigkeit der eigenen Gesellschaft beklagt.

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Ulrike Herrmann
Wirtschaftsredakteurin
Der Kapitalismus fasziniert Ulrike schon seit der Schulzeit, als sie kurz vor dem Abitur in Gemeinschaftskunde mit dem Streit zwischen Angebots- und Nachfragetheorie konfrontiert wurde. Der weitere Weg wirkt nur von außen zufällig: Zunächst machte Ulrike eine Banklehre, absolvierte dann die Henri-Nannen-Schule für Journalismus, um anschließend an der FU Berlin Geschichte und Philosophie zu studieren. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin der Körber-Stiftung in Hamburg und Pressesprecherin der Hamburger Gleichstellungssenatorin Krista Sager (Grüne). Seit 2000 ist sie bei der taz und schreibt nebenher Bücher. Ihr neuester Bestseller heißt: "Das Ende des Kapitalismus. Warum Wachstum und Klimaschutz nicht vereinbar sind - und wie wir in Zukunft leben werden". Von ihr stammen auch die Bestseller „Hurra, wir dürfen zahlen. Der Selbstbetrug der Mittelschicht“ (Piper 2012), „Der Sieg des Kapitals. Wie der Reichtum in die Welt kam: Die Geschichte von Wachstum, Geld und Krisen“ (Piper 2015), "Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung. Die Krise der heutigen Ökonomie - oder was wir von Smith, Marx und Keynes lernen können" (Piper 2018) sowie "Deutschland, ein Wirtschaftsmärchen. Warum es kein Wunder ist, dass wir reich geworden sind" (Piper 2022).
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10 Kommentare

 / 
  • V
    Viva

    Wer sagt denn, dass sich niemand betroffen fühlt.

    Im Gegenteil fühlen sich sehr viele betroffen, aber sie spüren eben auch die Hoffnungslosigkeit ihrer Situation und die Ausweglosigkeit ihrer Lage.

    Wenn die Mehrheit der Deutschen das Gefühl hat, sowieso über den Tisch gezogen zu werden und daran nichts ändern zu können, nach dem Motto: Egal, was Du wählst, es ist immer verkehrt, dann fehlt halt der Glaube, selbst etwas bewegen zu können.

  • KB
    Karin Burger

    Aus der Mitte der gesellschaftlichen Betroffenheit ist Frau Herrmann für diesen Kommentar zu danken. Ganz unbescheiden darf ich zu folgender Anmerkungen von ihr "Denn fast niemand in Deutschland will sich beschweren, keiner möchte Opfer sein. Die allgemeine Klage über die Ungerechtigkeit bleibt abstrakt - nur die wenigsten fühlen sich persönlich betroffen" wie folgt korrigieren:

    Ich bin betroffen - Prekariat pur als Working-poor-Akademikerin und ich habe darüber ein Buch geschrieben, das sich neben dem Erfahrungsbericht vor allem auch als Ratgeber an alle anderen Betroffenen richtet:

    Karin Burger

    Armutszeugnis - Ratgeber in Armutsfragen.

     

    Das Buch lebt von der Betroffenen-Perspektive und stich gerade deshalb, weil die Autorin aus der übliche Stigmatisierung von "arbeitslos" herausfällt.

     

    Karin Burger

  • D
    Dora ,Pan

    dazu fällt mir ein:

    "Wer in der Demokratie schläft,

    wacht in der Diktatur auf" (Goethe)

     

    ..was aber wenn ein Volk selbst dann nicht aufwacht,weil es anästhesiert und

    umprogrammiert wurde?

     

    geschichte wiederholt sich!

  • CM
    carl mumm von hopfensack

    Die Ungerechtigkeitslücke

     

    KOMMENTAR VON ULRIKE HERRMANN

     

    klasse zeilen,die dennoch mutlos machen.

    mfg v.hopfensack

  • E
    Eva

    Wenn man lügt, is es nicht so schlimm, wenn rauskommt, dass man Mist redet- dann wusste mans ja vorher schon und ist den Ehrlichen immernoch ne Nasenlänge voraus. Diese Politiker...

     

    PS: Das Volk ist im Moment aber auch erfolgreich abgelenkt durch Zukunftsangst. Ich wundere mich nicht, wenn manche da auf dumme Gedanken kommen

  • RK
    Rüdiger Kalupner

    Die 'Ungerechtigkeitslücke' ist in Wirklichkeit ein Teil der öffentlichen 'Wissenslücke', die darin besteht, dass die wirklichen, steuerungsstrukturellen Ursachen der strukturellen Einkommensverteilung zu Gunsten der Kapitalbesitzer öffentlich nicht bekannt werden.

     

    Auch die Gewerkschaftsspitzen, die diese Ursachen genau kennen, wollen auf ihre Machtrolle im Verteilungsspiel nicht verzichten und machen weiter mit im Flächentarifkartell zu Lasten der Arbeditnehmer.

     

    Tatsache ist, dass die stetige Verteuerung des Faktors Arbeit gegenüber den konkurrierenden Produktionsfaktoren für die sich verschärfende Verteilungsungerechtigkeit ursächlich verantwortlich ist. Strukurell steigende Bruttoarbeitskosten erzeugen den Zwang zu Rationalisierungsinvestitionen (= Wachstumszwang für den Kapitalstock), diese halten die Zinsen hoch - steigende Zinseinkommen aus der Multiplikation von Kapitalstock und Zinshöhe sind die Folgen. Dies geht direkt in die Einkommensverteilung ein und indirekt über steigende Massenarbeitslosigkeit werden die Löhne - nicht die hohen Lohnnebenkosten - gedrückt. Ein Teufelskreis, der durch jede Flächentariflohnerhöhungen weiter angetrieben wird.

     

    Doch wer weist auf diesen Zusammenhang hin? Nicht einmal die taz-Wirtschaftsredaktion denkt so weit, wie alle jene Rumpelstilzchenfiguren, die sich über ihren Trick 'steigende Bruttoarbeitskosten zu erzeugen' freuen, aus Dreck/Ressourcen via industrielle Produktion Geld für sich zu erzeugen.

     

    Erst wenn die Flächentariflohnerhöhungen durch ein energie- und sachkapitalsteuerfinanziertes Grundeinkommen für Jedermann ersetzt werden, werden wir aus der Ungerechtigkeitsfalle entlassen sein.

  • AH
    A. Helmut Fickenwirth

    Es ist für mich immer und immer wieder erstaunlich zu sehen wie leicht sich die Vielen von den Wenigen so leicht ausbeuten lassen.

  • M
    Manul

    ich denke eher, dass eine gewisse ohnmacht ist, selbst wenn man diese ungerechtigkeit deutlich verspürt und sie als störend empfindet. deutschland gerät zunehmend in eine art machtkrise, die mit jedem wahlergebnis sichbarer wird, die volksparteien verlieren an stimmen, weil sie keine volksparteien mehr sind. sie vertreten in erster linie nämlich interessen von wirtschaft, lobbyisten und anderer, dass die interessen des volkes nur noch eine nebensache sind. der dumme bürger hat das spiel natürlich längst durchschaut, deshalb ist gerade bei denen, die eindeutig zu den verlierern zählen, eine echte politikverdrossenheit zu verspüren, gepaart mit zulauf zu den extremen parteien, wie npd.

     

    nur, früher oder später wird die feuerwalze auch die mitte erreichen, preissteigerungen und dumpinglöhnen sei dank. dann darf man auch wirklich sehr gespannt sein wie dann wahlen verlaufen werden.

  • A
    Alster

    Die Mächtigen sagen immer das, woran sie

    selber nicht glauben. Im Selbstbetrug

    sind sie unschlagbar. Sie glauben,

    dass sie was besonderes sind. Aber nur

    so lange bis das Volk ihnen klar macht,

    dass ihr Zug abgefahren ist. Aber wo

    ist das Volk? Es schläft weiter!

  • GR
    Gerd Reinhard-Römer

    Bravo! Ein superguter und zutreffender Kommentar - kurz und prägnant - kann man da noch meckern...?