Armut-Kommentar: Die Ungerechtigkeitslücke

Die Mehrheit der Deutschen glaubt, dass es nicht gerecht zugeht im Staat. Warum sich dennoch keiner davon persönlich betroffen fühlt.

Ein seltsamer Widerspruch: Fast das gesamte Volk glaubt, dass es nicht gerecht zugeht im Staat. Trotzdem aber haften die Deutschen am Status quo. Bloß keine Veränderungen! Diese kognitive Dissonanz ist gar nicht so irrational, wie sie aussieht. Denn es stimmt ja, wie alle internationalen Statistiken belegen, dass die Reformen der letzten Jahre vor allem Verlierer produziert haben. Nur wenige Spitzenverdiener konnten profitieren. Es ist nachvollziehbar, dass fast niemand diese Erfahrung wiederholen will.

Die Stille im Land wird von den Politikern jedoch komplett missverstanden. So geben sich 60 Prozent aller Abgeordneten einer wohligen Selbsttäuschung hin: Sie glauben im Ernst, dass die deutsche Gesellschaft gerecht sei. Dieser Optimismus ist seltsam, aber nicht überraschend. Schließlich haben alle etablierten Parteien, ob im Bundestag oder im Bundesrat, an den Sozialreformen der letzten Jahre mitgewirkt. Da würde es nur stören, die Realität wahrzunehmen.

Die Abgeordneten müssen nicht befürchten, demnächst aus ihrer Selbstzufriedenheit gerissen zu werden. Denn fast niemand in Deutschland will sich beschweren, keiner möchte Opfer sein. Die allgemeine Klage über die Ungerechtigkeit bleibt abstrakt - nur die wenigsten fühlen sich persönlich betroffen. Selbst die Unterschicht findet es letztlich in Ordnung, dass sie so wenig verdient. Diese Bescheidenheit fühlt sich besser an, als die eigene Ohnmacht einzusehen. Deswegen ist auch von den Hauptschülern nicht zu erwarten, dass sie gegen die Hauptschule rebellieren, die ihnen alle Chancen nimmt.

Deutschland ist eine Klassengesellschaft, und das wird auch so empfunden. Aber für jeden Einzelnen gilt: Die Unterschicht ist immer dort, wo ich nicht bin. Klassenkampf fällt aus. Da fast niemand als Benachteiligter angesprochen werden will, ist das Wählerpotenzial für die Linken begrenzt. Insofern ist es nur konsequent, dass alle anderen Parteien so hartnäckig in die Mitte streben. Aber auch diese Mitte ist sozial sensibel. Das Loblied der "Eigenverantwortung" - von CDU bis Grün gern vorgetragen - verfehlt ein Volk, das so vehement die Ungerechtigkeit der eigenen Gesellschaft beklagt.

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Der Kapitalismus fasziniert Ulrike schon seit der Schulzeit, als sie kurz vor dem Abitur in Gemeinschaftskunde mit dem Streit zwischen Angebots- und Nachfragetheorie konfrontiert wurde. Der weitere Weg wirkt nur von außen zufällig: Zunächst machte Ulrike eine Banklehre, absolvierte dann die Henri-Nannen-Schule für Journalismus, um anschließend an der FU Berlin Geschichte und Philosophie zu studieren. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin der Körber-Stiftung in Hamburg und Pressesprecherin der Hamburger Gleichstellungssenatorin Krista Sager (Grüne). Seit 2000 ist sie bei der taz und schreibt nebenher Bücher. Ihr neuester Bestseller heißt: "Das Ende des Kapitalismus. Warum Wachstum und Klimaschutz nicht vereinbar sind - und wie wir in Zukunft leben werden". Von ihr stammen auch die Bestseller „Hurra, wir dürfen zahlen. Der Selbstbetrug der Mittelschicht“ (Piper 2012), „Der Sieg des Kapitals. Wie der Reichtum in die Welt kam: Die Geschichte von Wachstum, Geld und Krisen“ (Piper 2015), "Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung. Die Krise der heutigen Ökonomie - oder was wir von Smith, Marx und Keynes lernen können" (Piper 2018) sowie "Deutschland, ein Wirtschaftsmärchen. Warum es kein Wunder ist, dass wir reich geworden sind" (Piper 2022).

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